Nach der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Hier eine kleine Presseschau der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Süddeutsche Zeitung hat sich der Thematik ausführlich gewidmet und zwei Artikel sowie einen Kommentar von Heribert Prantl gebracht.

Der Artikel vom 29.10.2010 (Karlsruhe stellt Abschiebepraxis in Frage) fängt gleich mit einer Prognose an:

Das Bundesverfassungsgericht wird voraussichtlich den Rechtsschutz für Asylbewerber in Deutschland verbessern. Die Richter des Zweiten Senats tendieren in ihrer Mehrheit offenbar dazu, im Fall von Griechenland den rigiden Abschiebe-Automatismus aus dem Asylkompromiss der 90er Jahre auszusetzen

Weiter schreibt die SZ:

Der Zweite Senat wird in seinem für kommendes Frühjahr erwarteten Urteil jedoch nicht selbst darüber befinden, ob die Asylpraxis in Griechenland rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht oder nicht […]. Es geht einzig um den einstweiligen Rechtsschutz, der entweder direkt aus den europäischen Zuständigkeitsregeln oder direkt aus dem Grundgesetz abgeleitet wird.

Die Bundesregierung, vertreten durch Innenminister de Maizière, vertrat die unhaltbare These, dass das Asylsystem in Griechenland NICHT zusammengebrochen sei und zudem im laufenden Jahr nur 43 Griechenland-Abschiebungen stattgefunden hätten. Es sei zudem höchst problematisch, wenn das BVerfG die Lage in anderen Ländern prüfe.

Heribert Prantl hat in seinem Kommentar (Das Grundrecht dritter Klasse) die ganz optimistische Variante formuliert:

Seit 17 Jahren, seit 1993, lügt sich das neue deutsche Asylrecht die Welt zurecht. Das große Lügen geht jetzt zu Ende: Das Bundesverfassungsgericht macht die Heuchelei nicht mehr mit.

Diese Klausel [Drittstaatenklausel; w2eu] war das von der deutschen Politik erfolgreich propagierte Vorbild für das Asylrecht der EU. Aber die Schärfe der deutschen Klausel ist nach wie vor ohne Vorbild in Europa. Deutschland verhält sich wie Pontius Pilatus: Man wäscht die Hände in Unschuld und schiebt Flüchtlinge so rigoros ab wie Sarkozy die Roma. Zum Beispiel von Deutschland nach Griechenland – obwohl es dort keinen Schutz für Flüchtlinge gibt. Das Asylverfahren in Griechenland ist kein Schutz-, sondern ein Jagdrecht. Aber das deutsche Asylrecht nimmt das nicht zur Kenntnis. Was realiter in Griechenland (oder anderswo) passiert, interessiert nicht: Man schaut in die Listen, da steht “sicher” – und man schiebt ab. Man nennt das “normative Vergewisserung”; die Realität ist egal, der Buchstabe des Gesetzes alles.

Der Artikel von AFP (De Maizière warnt vor weiteren Rechten für Asylbewerber) geht noch etwas näher auf die Argumente der Bundesregierung ein:

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat vor zusätzlichem Rechtsschutz für Asylbewerber gewarnt, die über den EU-Grenzstaat Griechenland nach Deutschland einreisen. Defizite beim Vollzug des Asylrechts in Griechenland müssten “politisch gelöst” werden und nicht verfassungsrechtlich, sagte de Maizière vor dem Bundesverfassungsgericht. […]

De Maizière betonte, dass Griechenland als EU-Mitglied ein “Rechtsstaat” sei. Es stehe zwar “politisch außer Frage”, dass es dort “Defizite beim Vollzug des Asylrechts gibt”. Doch diese Mängel würden eine Abschiebung von Betroffenen nach Griechenland rechtlich nicht ausschließen. Griechenland habe für die Lösung des Flüchtlingsproblems Hilfe erbeten, es brauche Hilfe und es bekomme sie auch.

Zum Rahmen der kommenden Entscheidung schreibt die AFP:

Dem Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle zufolge müssen die Verfassungshüter nun entscheiden, “ob und unter welchen Voraussetzungen” ein Asylsuchender Eilrechtsschutz vor Abschiebung in einen sogenannten sicheren Drittstaat einfordern kann. Zu diesen Staaten zählen laut Verfassung automatisch alle EU-Mitgliedsstaaten. Artikel 16 des Grundgesetzes erlaubt den Schutz vor Abschiebung in sichere Drittstaaten nur in strengen Ausnahmefällen, etwa wenn solch ein Staat selbst keinen Schutz mehr vor politischer Verfolgung gewährt.

Auch der Focus hat einen Artikel gebracht (Verfassungsgericht für mehr Schutz).

Zur Einschätzung des BVerfG:

Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle nannte die Lage der Ausländer in Griechenland „prekär“. Die Karlsruher Verfassungsrichter erwägen deshalb, dass Betroffene vor ihrer Abschiebung nach Griechenland im Eilverfahren ein deutsches Gericht anrufen können. […]

Das Bundesverfassungsgericht sieht dagegen Anhaltspunkte für eine „massive Überforderung der griechischen Behörden“ in den Asylverfahren, wie Bundesverfassungsrichter Michael Gerhardt sagte. Die Karlsruher Richter verwiesen auf zahlreiche europäische Staaten, die die automatische Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland gestoppt hätten. Auch vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) liegt eine Vorlage, ob vor einer Abschiebung nach Griechenland einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden müsse.

Es wird auch relativ klar dokumentiert, dass es der Bundesregierung keineswegs um ein faires Asylsystem geht, sondern dass das Ziel Migrationsverhinderung ist:

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) trat in Karlsruhe einer Rechtsänderung entgegen und warnte eindringlich vor den Folgen. Ein Transfer der Flüchtlinge von Griechenland in die EU-Staaten wäre die Folge. De Maizière bestätigte zwar Schwierigkeiten Griechenlands bei der Bewältigung der Asylverfahren und Mängel bei der Flüchtlingsunterbringung. Maßnahmen zur Abhilfe seien aber bereits auf dem Weg. „Griechenland braucht Hilfe und Griechenland bekommt Hilfe“, sagte de Maizière. Dies seien aber politische Fragen, keine verfassungsrechtlichen.

Die FAZ hat auch einen Artikel, der vor allem in Hinsicht auf die Verquickung mit der europäischen Ebene interessant ist (Der Geist der Menschenwürde):

Der Zweite Senat ließ andererseits anfangs kein gutes Haar an dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des irakischen Asylbewerbers: „Es ist nicht klar, wo Sie damit hin wollen“, stellte Voßkuhle fest, so dass sich mancher fragte, wozu diese mündliche Verhandlung überhaupt anberaumt wurde. Der Anwalt hatte den Eindruck erweckt, als verdränge das europäische Asylrecht die deutschen Verfassungsbestimmungen, und er regte eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg an. Der ist tatsächlich schon mit dieser Frage befasst […]

Doch die Karlsruher Richter lassen sich, aller immer wieder betonten guten europäischen Zusammenarbeit zum Trotz, ungern sagen, dass sie eigentlich nicht zuständig sind. Schließlich hatte auch das Bundesverfassungsgericht, als es vor bald 15 Jahren den Asylkompromiss billigte, enge Ausnahmen zugelassen, in denen doch Rechtsschutz gewährt werden müsse. Doch für die Bundesregierung ist eine solche Ausnahme erst dann gegeben, wenn ein EU-Staat gleichsam selbst zu einem Verfolgerstaat wird, oder wenn, wie ihr Prozessbevollmächtigter Kay Hailbronner darlegte, das Asylsystem eines Landes völlig zusammengebrochen sei.

Am Schluß ist dann noch der gröbste Fehlgriff des Bundesinnenministers dokumentiert:

Es sei Ausdruck der „inneren Würde der Staaten“, sich nicht gegenseitig „Schulnoten“ zu erteilen [sagte der Bundesinnenminister; w2eu]. Das war eine Vorlage für Richter Udo Di Fabio: „Wir gehen ja von der Würde des Menschen aus.“ Und der Berichterstatter in diesem Verfahren, Michael Gerhardt, ergänzte: „Was ist mit den Individuen?“ In der Tat kann man es sich nur schwer vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht den individuellen Rechtsschutz aufgibt. Denn dass man sich grundsätzlich gegen hoheitliche Eingriffe wehren kann – unabhängig von europäischer Verflechtung – ist auch Ausfluss der Menschenwürde. Di Fabio sagte, diese sei wie ein „Geist“, der in den übrigen Grundrechten enthalten sei.

Kampagnenzeitung

Kategorien