17./18.Dezember 2010
Bericht als PDF auf deutsch: Kurzbesuch Ungarn_12.2010
Bericht als PDF auf englisch: Short visit to Hungary_12.2010
Flüchtlingslager in Debrecen/ Ungarn
Der folgende Bericht bezieht sich auf Gespräche während eines zweitägigen Besuchs in Ungarn. Wir sprachen vor allem mit afghanischen Flüchtlingen in Debrecen (Erstaufnahmelager – Transfers nach erstem Screening in Békéscsaba oder nach Ende der Haft in den verschiedenen Detention Camps) und in Bicske (Camp für unbegleitete Minderjährige und anerkannte Flüchtlinge, aber auch mit MitarbeiterInnen des Helsinki-Komitee Ungarn. Schwerpunkt dieser Gespräche war die Situation von über DublinII nach Ungarn abgeschobenen Flüchtlingen – aber auch generell die sozialen Bedingungen für Flüchtlinge in Ungarn. Das war nicht die erste Reise nach Ungarn, an der Leute aus dem Welcome to Europe Netzwerkbeteiligt waren: über das Border Monitoring Projekt Ukraine (http://bordermonitoring-ukraine.eu/) bestehen bereits seit über zwei Jahren gute Kontakte auch nach Ungarn. Und auch das Infomobil, das seit dem Sommer durch Griechenland tourt (http://infomobile.w2eu.net/), hatte auf der ersten Fahrt im Sommer einen Stopp in Ungarn eingelegt. Auch bei dieser Reise haben wir einige neue Kontakte geknüpft, alte vertieft und bekannte Gesichter wieder getroffen – und wir kommen sicher wieder…
Es ist noch nicht lange her, da haben Flüchtlinge den Fingerabdruck in Ungarn durchaus zu nutzen gewußt, um damit „sicherer“ auf die Weiterreise zu gehen, weil ihnen dann „nur“ die Abschiebung nach Ungarn drohte, von wo aus sie sich erneut auf den Weg machten. Denn es war nicht so schwer, selbst aus dem geschlossenen Lager in Békéscsaba wieder zu entkommen. Selbst mit Bewachung durch Sicherheitsdienst und Hunde, gelang einigen die Weiterflucht. Viele wurden jedoch über DublinII später wieder nach Ungarn abgeschoben – manche 2-3-4-5 Mal, gestohlene Monate, bei manchen Jahre, in denen sich nichts vorwärtsbewegt in Richtung Papiere. Mit einem verschärften Haftsystem werden die Lücken im ungarischen Migrationsregime nun – offenbar auf europäischen Druck hin – geschlossen.
Verschärftes Detention-System – Knast für alle
Offenbar auf Druck der EU hat Ungarn das Haftsystem für Flüchtlinge 2010 massiv verschärft. Im April 2010 wurden neben den vier existierenden Hafteinrichtungen (Budapest-Airport, Nyírbátor, Kiskunhalas und Györ) und dem „Screening Center“ in Békéscsaba (es ist ein geschlossenes Lager) 11 weitere neue Hafteinrichtungen eröffnet und die Haftkapazität von 282 au etwa 700 Haftplätze aufgestockt. Diese Aufstockung der Haftkapazitäten erfolgte hastig, oft wurden die heruntergekommenen Zellen kleiner Polizeistationen dafür wieder in Betrieb genommen. Die Haftbedingungen variierten stark, in manchen dieser Orte war der Zustand allein der Räumlichkeiten grauenhaft. Je nach Härte des Haftregimes kam es den ganzen Sommer über zu massiven Protesten all diesen Detention-Centres. In kleineren Polizeistationen, die vereinzelt humaner mit den Leuten umgingen, gab es in der Regel weniger Proteste, sie hatten vielleicht nur 1-2 Hungerstreiks in den Sommermonaten. In den meisten anderen (neuen und alten) Detentions gab es unzählige Hungerstreiks, es kam vermehrt zu Selbstverletzungen (und leider auch zu massiven Kämpfen verschiedener Gruppen von Inhaftierten). In Kiskunhalas, nahe der serbischen Grenze brannte eine Etage im Zuge einer Revolte völlig aus. Dies alles lief nahezu unbemerkt von jeglicher Öffentlichkeit ab.
Nyírbátor und Kiskunhalas gelten unter den Flüchtlingen als die „Horrorknäste“. Und nachdem die zusätzlichen 11 Detentions nach der Hauptankunftszeit im Sommer nun zunächst wieder geschlossen wurden, werden zugleich die Kapazitäten dieser Knäste erweitert. Nyírbátor wurde von ursprünglich 169 auf 278 Haftplätze erweitert. Die Haftbedingungen dort waren extrem schlecht: limitierter Zugang zu Telefonen (nur 5 Minuten täglich), eine Stunde Hofgang, die häufig ausfiel, keinen oder kaum Umschluss. Die Gebäude sollen jetzt mit EU-Geldern aufgemöbelt werden, Sporthalle und Gebetsraum gebaut werden.
Nachdem im Sommer (auch aufgrund der sehr vollen Knäste) die Hauptsaison der Proteste und Revolten in ungarischen Abschiebeknästen war, berichten Flüchtlinge davon, dass seitdem v. a. in Nyírbátor gezielt Schlafmittel und Tranquilizer eingesetzt werden, um Inhaftierte ruhigzustellen. So seien alle aus diesem Knast in den vergangenen 3-4 Monaten nach Debrecen überstellten Flüchtlinge auffällig depressiv und schläfrig. Viele versuchen über den Lagerarzt weiterhin „head-tabletts“ zu bekommen. Verweigerung dieser Medikamente mache die Leute aggressiv, es handelt sich offenbar um stark wirkende Medikamente, die nach absetzen Entzugserscheinungen verursachen. „They started to use this method, because there was more and more trouble inside the prison, the more people they put inside. Everybody has to take these tablets in Nyírbátor!” erklärt Reza (Name geändert) – und erzählt von seinem Freund, der die Tabletten verweigern wollte, weil er nicht krank sei und daraufhin heftig geschlagen wurde – solange bis die Tablette geschluckt war.
Über DublinII „rücküberstellte“ Flüchtlinge werden ebenfalls inhaftiert
Inhaftiert werden auch Flüchtlinge, die über DublinII nach Ungarn abgeschoben werden. Auf juristischer Ebene sollte diese Praxis angreifbar sein, in Planung ist, mit einzelnen Fällen vor den Strasburger Menschenrechtsgerichtshof zu ziehen. In der Praxis wird in der Regel gesagt: „Wer einmal abgehauen ist und das Verfahren abbricht, ist kein Asylbewerber mehr.“ Einzelne Flüchtlinge erzählen, dass ihnen bei der Festnahme am Budapester Flughafen gesagt wird, dass sie in Haft kommen, zur Strafe, weil sie weggelaufen sind aus Ungarn. Formal wird direkt bei Ankunft auf dem Flughafen in Budapest ein Abschiebebescheid erlassen, der die Inhaftierung von bis zu sechs (ab dem 24.12. bis zu zwölf) Monaten erlaubt. Nur wer bereits ganz kurz nach Beginn der Weiterreise geschnappt und abgeschoben wird, so dass die Akte noch „offen“ ist und bereits anerkannte Flüchtlinge werden nicht inhaftiert.
Die Knäste sind voll mit Abgeschobenen aus Österreich, Deutschland, Belgien, Frankreich usw. Ein sehr hoher Prozentsatz flieht nach der ersten Registrierung in Ungarn weiter, kaum eine/r will hier bleiben, wahrscheinlich niemand ist gezielt nach Ungarn gekommen. Ungarn ist ein klassisches Transitland – vom Osten aus der Ukraine, von Süden von Griechenland aus über Serbien Richtung Mittel- und Nordeuropa. Die Anerkennungsquoten für einzelne Gruppen (v. a. Somalis) sind zwar im europäischen Vergleich eher gut. Dem gegenüber stehen allerdings die mehr als schwierigen ökonomischen und sozialen Bedingungen.
Soziale Bedingungen für Flüchtlinge in Ungarn katastrophal
Anerkannten AsylbewerberInnen stehen nur 6 Monate Unterbringung zu, die in besonderen Fällen um weitere 6 Monate verlängert werden können. Danach droht die Obdachlosigkeit. Jobs sind in Ungarn sehr schwer zu finden. Flüchtlinge (und im speziellen Traumatisierte) finden kaum eine Möglichkeit zum Überleben. Bereits im vergangenen Winter veröffentlichte der UNHCR einen Bericht über Obdachlosigkeit anerkannter Flüchtlinge aus Somalia in Budapest. Im UNHCR-Bericht von diesem November wird diese Problematik erneut thematisiert.
Zudem ist (im speziellen für Somalis) die Familienzusammenführung aufgrund Nichtanerkennung somalischer Pässe und jeglicher Ersatzdokumente de facto verunmöglicht. Ein weiterer Grund, warum viele entscheiden, weiterzufliehen und einen neuen Versuch zu machen.
Neue Asylgesetzgebung in Ungarn ab dem 24.12.2010
Die neue Regierung hat – rasch durchgepeitscht – eine neue, noch striktere Asylgesetzgebung beschlossen, die sich vor allem gegen „illegale Migration“ richtet. Darin wird u. a. die Abschiebehaftdauer von bislang 6 auf 12 Monate verlängert. Das klingt erstmal nur nach europäischer Anpassungsmaßnahme (wie immer in Richtung „worst practice“) – Deutschland ist mal wieder Orientierungshilfe. Da jedoch die Haft hier fast ausnahmslos auf alle Asylsuchenden angewendet wird, kann davon ausgegangen werden, dass mit weiterhin zunehmenden Dublin-Rückschiebungen die Detention-Centers voll ausgelastet sein werden. Die zunächst vorgesehene Inhaftierung für Minderjährige bis zu 30 Tage wurde in allerletzter Minute noch aus der Gesetzesvorlage gestrichen.
Minderjährige werden willkürlichen Altersfeststellungen unterworfen
Flüchtlingslager für unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge in Bicske
Zumindest in einzelnen Fällen uns bekannten Fällen sind (illegal) auch Minderjährige nach der Abschiebung inhaftiert worden (siehe http://w2eu.net/2010/10/26/hungary-imprisons-minors-after-dublin2-deportation/). Jedoch in vielen Fällen mit zuvor (manchmal auch erst nachträglich!) geänderten Geburtsdaten. Es wird mehrfach berichtet, dass Jugendliche in Ungarn beim ersten Ankommen einer medizinischen Altersfeststellung unterworfen werden (mit Röntgen und Zahnuntersuchung), die meisten verlassen das Land dann sobald sie nach Bicske transferiert werden. Nach der Abschiebung aus anderen europäischen Ländern wird das Alter dann (z. T. vom gleichen Arzt!) nach Augenschein verändert. Im ersten Anlauf als 16jährige Registrierte altern so innerhalb manchmal innerhalb eines halben Jahres um Minimum 2 Jahre und sind nach Augenschein nun 19. Flüchtlinge berichten uns, dass das keine Einzelfälle sind. Darunter sind auch Jugendliche, die bereits in 3-4 anderen europäischen Ländern waren und überall nach unterschiedlichsten Methoden der Altersfeststellung als Minderjährige registriert wurden.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wurden bislang in Bicske untergebracht, „Interchurch Aid Hungary“ betreibt das Minderjährigen-Lager dort. In Zukunft sollen sie in normalen Kinderheimen untergebracht werden, voraussichtlich ab spätestens Mai im „Children Village“ in Fot.
Wie weiter?
- In einzelnen Fällen könnte vermehrt versucht werden, Abschiebungen nach Ungarn mit Bezugnahme auf die massive Gefahr erneuter mehrmonatiger Inhaftierung (im speziellen bei Traumatisierten) zu verhindern.
- Das entwürdigende Detention-System sollte nicht nur schärfstens beobachtet werden. Vor allem aber sollten die Proteste der Flüchtlinge in den Knästen unsererseits dokumentiert und öffentlich gemacht werden. Der Protestsommer 2010 in den ungarischen Abschiebeknästen hat zwar offenbar hinter verschlossenen Türen für einigen Wirbel gesorgt – ist aber der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben.
- Als AktivistInnen haben wir einen großen Bonus: wir sind Teil von Bewegungen, nicht von Organisationen. Das ist eine große Stärke in diesem Bereich, denn sie gibt uns einen Vertrauensvorschuss und macht es möglich, tatsächlich mit den Kämpfen der MigrantInnen in den Lagern und Knästen Europas verbunden zu sein. Denn wir sind nicht abhängig von europäischem Geld und Kooperation mit Behörden etc. – und das ist wohl der Hauptgrund, warum uns immer wieder sehr viel Vertrauen entgegengebracht wird. Wir sollten diese Stärke im Kopf behalten, in Ungarn oder wo auch immer und vor allem diese direkten Kontakte ausbauen und denen eine Stimme geben, die die Abschiebungen und das verschärfte Haftsystem täglich erleben müssen.
- Ungarn hat ab Januar die EU-Präsidentschaft, das könnte genutzt werden um im speziellen das verschärfte Haftregime und das fortgesetzte Refoulement Richtung Ukraine, aber auch die soziale Situation von Flüchtlingen in Ungarn und in Europa öffentlich stärker zu thematisieren.
- Regelmäßige Reisen (nicht nur) nach Ungarn, in denen wir direkt die Stimmen derer anhören, die das ungarische Haftsystem erleben mußten, wären sicherlich hilfreich, ähnlich wie wir sie mit dem Infomobil in Griechenland etabliert haben.
Welcome to Europe Network, Dezember 2010
contact@w2eu.info
Aktuelle Dokumente und Berichte (unvollständige Liste):
– Bericht des UNHCR zu Ungarn von November 2010:
http://www.unhcr.org/refworld/country,,,,HUN,,4cd8f31b2,0.html
– Webseite des Helsinki-Komitees mit diversen Berichten auch auf Englisch: http://helsinki.hu/
– mehrsprachiges Flugblatt für Flüchtlinge in Ungarn (auch interessant zum Überblick über das ungarische Asylsystem und mit Karte auf der sie Lager und Knäste eingezeichnet sind): http://w2eu.info/hungary.en/articles/hungary-asylum.en.html
Refoulement Richtung Ukraine
– Refoulement-Broschüre Ukraine: http://bordermonitoring-ukraine.eu/2010/11/18/access-to-protection-denied-refoulement-of-refugees-and-minors-on-the-eastern-borders-of-the-eu-%E2%80%93-the-case-of-hungary-slovakia-and-ukraine/
– Human Rights Watch-Bericht Ukraine von November 2010:
http://www.hrw.org/en/reports/2010/12/16/buffeted-borderland-0