Noch nie war der Widerstand gegen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant*innen und insbesondere gegen innereuropäische Abschiebungen so lautstark: Deutschland- und europaweit formieren sich Initiativen wie die selbstorganisierten Kämpfe der „Lampedusa-Gruppen“. Auch die Außengrenzen sind so umkämpft wie noch nie. Fast wöchentlich überwinden Migrant*innen kollektiv die Grenzzaunanlagen in Ceuta und Melilla, tausende sind in den letzten Monaten in Sizilien gelandet, auf Lampedusa verweigerten öffentlich Hunderte erfolgreich die Registrierung ihrer Fingerabdrücke und auch in der Ägäis kommen täglich mehr Boote auf den griechischen Inseln an.
Das Dublin-System nimmt Geflüchteten das Recht, zu entscheiden, wo sie Asyl suchen. Automatisch für das Asylverfahren zuständig ist immer das Land der Einreise. Um die Dublin Verordnung durchzusetzen, wurde und wird eine gigantische Menge biometrischer Daten (EuroDac) erfasst.
Die Hauptverantwortung wird damit an die europäischen Außen-
grenzen verlagert. Deutschland gehört zu den Hauptprofiteuren dieses Systems. Seit der Reformierung der Dublin-Verordnung Ende 2013 hat eine regelrechte Welle von Abschiebungen an die Ränder Europas begonnen – dabei machten schon 2013 Dublin-Abschiebungen etwa ein Drittel aller Ab- und Zurückschiebungen aus Deutschland aus.
Der Widerstand gegen die Dublin-Verordnung ist vielfältig. In jahrelangen Auseinandersetzungen haben antirassistische Initiativen Anwälte und Anwältinnen, NGOs, und die Betroffenen vor europäischen Gerichten einen Abschiebestopp nach Griechenland erstritten. In andere europäische Länder mit ähnlich desaströsen Bedingungen wird dennoch weiterhin abgeschoben. Die Reformierung der Dublin-Verordnung hat nicht mehr als kosmetische Veränderungen gebracht. Die katastrophalen Zustände in anderen EU-Ländern führen dazu, dass sich viele Asylsuchende seit Jahren in der Schleife von Weiterflucht und Abschiebung befinden. Eine der Grundideen von Dublin „No refugees in orbit“, die schnelle Klärung der Zuständigkeit, wird durch die langjährigen Odysseen und Abschiebeerfahrungen der Flüchtlinge ad absurdum geführt.
Das Dublin System ist Teil eines menschenverachtenden europäischen Grenzregimes. Dublin muss weg!
Kontakt und konkrete Unterstützung sind für jede und jeden einzelnen enorm wichtig und steigern die Chancen, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden – das Gefühl nicht allein zu kämpfen hilft, nicht aufzugeben. Es braucht viele Menschen, die Kontakt aufnehmen und Freundschaften knüpfen.
Viele der Betroffen haben traumatische Erfahrungen gemacht. Um ihnen zu helfen und Dublin-Abschiebungen zu verhindern, werden Behandlungen und Atteste über physische und psychische Erkrankungen nötig. Oft sind diese die einzige Möglichkeit, auf juristischem Weg Abschiebungen zu stoppen. Deshalb sind Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychiatern unerlässlich, die entsprechende Diagnostiken und Gutachten erstellen.
Wir brauchen Schutzräume für die von Abschiebungen bedrohten Menschen. Viele von ihnen müssen nur wenige Monate überbrücken, um eine Abschiebung zu stoppen. Das Kirchenasyl erscheint als effektives Mittel, indem es einen konkreten Schutzraum schafft und – sofern mit öffentlichen Initiativen verbunden – gleichzeitig den politischen Druck aufbaut. Wir müssen Kontakte zu solidarischen Gemeinden und Unterstützer*innen auf- und ausbauen!
Es gilt, die politischen Akteure vor Ort in die Verantwortung zu nehmen. Die Forderungen der Lampedusa-Gruppen nach einem Bleiberecht richten sich nicht zuletzt an die Städte und Gemeinden, in denen die Flüchtlinge angekommen sind und bleiben wollen. Einen gleichgültigen Verweis durch Politiker*innen auf europäische Vorgaben nehmen wir nicht hin! Es gibt viele Handlungsmöglichkeiten: Fordert Kommunalpolitiker*innen auf, ihren Spielraum zu nutzen, schreibt offene Briefe, stürmt Bürgersprechstunden!
Vor allem gegen Abschiebungen nach Italien, aber auch nach Malta und Ungarn, wehren sich viele Flüchtlinge noch in letzter Minute. Bei Abschiebeversuchen per Flugzeug stehen sie auf oder weigern sich, sich anzuschnallen. Scheitert die erste Abschiebung, werden die Betroffenen vielfach in Abschiebehaft genommen. Beim zweiten oder dritten Abschiebeversuch sind sie dem Druck durch die begleitenden Polizeibeamten ausgesetzt. Geflüchtete brauchen solidarische Mitreisende und Unterstützung am Flughafen, denn sie fliegen nicht freiwillig!
Die Betroffenen werden sich zweifellos weiterhin Abschiebungen widersetzen, leider werden nicht alle erfolgreich sein. Nach der Abschiebung ist es wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, uns mit ihrer Forderung nach Bewegungsfreiheit zu solidarisieren und sie praktisch zu unterstützen. Wir müssen dokumentieren, was die Betroffenen nach ihrer Abschiebung erleben. Außerdem geht es um die praktische Unterstützung bei der Rückkehr. Wir benötigen ein transeuropäisches Netzwerk, das in der Lage ist, Asylsuchende dabei zu unterstützen, was sie schon alltäglich machen: das Dublin System zu unterlaufen.
Lampedusa ist überall!
Täglich entziehen sich Geflüchtete massenhaft den angeordneten Abschiebungen, indem sie untertauchen, sich widersetzen oder weiterziehen. Solange die Lebensbedingungen in Italien, Ungarn, Polen oder anderswo menschenunwürdig sind, werden sich Asylsuchende nicht von einer europäischen Verordnung von der Weiterflucht abhalten lassen – vielmehr findet mit den Füßen eine stille Abstimmung gegen das Dublin-System statt.
In Hamburg kämpft die Gruppe “Lampedusa in Hamburg” seit fast einem Jahr für ein Bleiberecht und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. In Osnabrück haben Betroffene und Unterstützer*innen sich mit einer Blockade erfolgreich den Dublin-Abschiebungen widersetzt. In Frankfurt demonstrieren Hunderte gegen Abschiebungen nach Italien. In Hanau gründete sich eine weitere Lampedusa-Initiative. In Göttingen konnte die Abschiebung eines Somaliers nach Italien trotz massiver Polizeigewalt durch eine Blockade verhindert werden…
Protestmarsch nach Brüssel
…All diese Aktivitäten fallen in eine Phase verstärkter Selbstorganisation, die mit dem Protestmarsch nach Berlin 2012 eine neue Dynamik gewonnen und sich seitdem weiter verdichtet hat. Aktueller Ausdruck/Höhepunkt ist die Vorbereitung eines neuen transnationalen Marsches von Straßburg nach Brüssel, der von Refugees, Sans Papieres und MigrantInnen aus mehreren europäischen Ländern gemeinsam initiiert wurde.
Er beginnt am 18. Mai und mündet am 20. Juni in einer Aktionswoche in der Hauptstadt der EU, um gegen das dortige Gipfeltreffen der Innenminister zu protestieren. Ein inhaltlicher Schwerpunkt dieses Marsches ist der Kampf gegen die inneren Grenzen der EU und damit insbesondere gegen die Dublin-Verordnung und das EuroDac-System. Wir rufen dazu auf, an dem Marsch und den Aktionstagen in Brüssel teilzunehmen und unsere Kämpfe damit verstärkt auf die europäische Ebene zu tragen.