…der Fingerabdruck in Italien ist ein verstecktes Gefängnis für uns.
Gruppeninterview mit eritreischen Flüchtlingen in Oberursel am 17.07.2011
PDF-Version zum Ausdrucken: Dublin muss brennen
Im Oberurseler Containerlager trafen wir uns mit eritreischen Flüchtlingen, um über die Flüchtlingssituation in Italien zu sprechen. Momentan leben sie in verschiedenen Flüchtlingslagern in Hessen. Sie alle haben Angst bald wieder nach Italien abgeschoben zu werden. Denn ihre Fingerabdrücke wurden bei ihrer Flucht nach Europa dort registriert. Manche von ihnen haben gar einen humanitären Aufenthaltsstatus in Italien – der ihnen jedoch nicht viel nützt, denn die Lebenssituation in Italien ist unerträglich für sie. Nachdem durch ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes die sogenannten Dublin-Überstellungen nach Griechenland vorläufig gestoppt sind, ist Italien das Land, in welches die meisten Menschen innereuropäisch abgeschoben werden. Wir sprachen nicht allein über die konkreten Erlebnisse in Italien, sondern auch generell über die Auswirkungen der Dublin II-Regelung. Wir geben das Gespräch in leicht gekürzter Form wieder. Trotz der Kürzungen läßt sich erahnen, dass die Gedanken in diesem „versteckten Gefängnis“ oft verzweifelt kreisen. Selbst die Zuhörenden packt diese Verzweiflung manchmal. Wir sind dennoch überzeugt: es lohnt sich immer wieder zuzuhören. Denn das Teilen der Momente von Verzweiflung schafft die Grundlage geteilter Wut, mit der wir die Dublin II-Verordnung auf den Müllhaufen der Geschichte fegen können.
w2eu: Was bedeutet Dublin für Euch?
Osman: Das ist eine komplizierte Frage. Für mich ist es wie eine Sperre. Ich bin eingeschlossen. Es ist eine andere Art, um zu sagen: „Wir wollen Euch nicht. Geht dahin zurück, woher ihr kommt.“
Samuel: Dublin ist nicht fair den Menschen gegenüber. Wir sind in einer sehr schlechten Situation. Dublin ist eingeführt worden, um Einwanderung zu kontrollieren, besonders aus Afrika. Es ist eine andere Form, diejenigen zu foltern, die sprachlos sind, diejenigen ohne Stimme. Dublin bedeutet, dass wir kein Recht haben, über irgend etwas zu sprechen, nicht einmal über Dublin selbst. Dublin bedeutet für mich, an einen Ort entführt zu werden, an dem wir ohne Stimme und ohne Hoffnung festgehalten werden. Es bestimmt unser Leben.
Aman: Was Dublin für mich bedeutet? Also, als wir unser Land Eritrea verließen, taten wir das, weil wir mit gravierenden Problemen konfrontiert waren. Wir flüchteten, weil wir dort als Menschen nicht überleben konnten. Sowohl bei der Europäischen Union als auch bei der UN sind die Gründe, Eritrea zu verlassen, bekannt und anerkannt. Doch als wir nach Europa kamen, änderte sich nicht viel für uns: wir steckten noch immer in Schwierigkeiten.
Wenn du die Schwierigkeiten vergleichst, jene mit denen wir in Eritrea konfrontiert waren und die, die wir in Italien durchleben mussten, wirst du erkennen, dass der Unterschied im wesentlichen nur in einem besteht: In Eritrea brechen sie dich auf eine sehr direkte Weise. Wenn sie dich verhaften wollen, dann tun sie das. Wenn sie dich töten wollen, dann können sie das. Betrachtest du die Situation in Europa: Auch sie lassen dich verschwinden, allerdings in einer indirekten, nicht sichtbaren Weise.
Sobald wir hier ankommen, stehen wir vor Problemen mit den europäischen Regierungen, so wie zuvor mit der eritreischen Regierung – nur die Form ist eine andere. Also, die sogenannte Dublin-Regelung ist wie ein diktatorisches Regime in Afrika, unter einem anderen Namen und in einer anderen Form.
Teame: Dublin, Dublin… Verzweiflung, das ist es, was Dublin für mich bedeutet. Wir flohen aufgrund von Problemen, aber was uns hier erwartet ist noch schlimmer. Was ich meine ist, wir kamen nicht hierher um zu trinken, zu essen und herum zu sitzen. Wir kamen hierher, um Frieden zu finden, aber es fühlt sich an wie ein Hinterhof, in dem wir eingeschlossen sind. Dublin… Ich weiß nicht. Ich kann es nicht verstehen, es macht keinen Sinn. Ich habe nachgedacht, um einen Ausweg zu finden, wieder und wieder, aber es gibt nichts, was ich tun kann. Wir hatten Ziele als wir hierher kamen, aber sie wurden alle zerstört. Deshalb bedeutet Dublin für mich, dass ich keine Entscheidungen treffen kann, die meine Zukunft betreffen. Wir sind hoffnungslos geworden (…lange Pause…). Dublin zwingt dir Gedanken der Verzweiflung auf, zwingt dich in etwas hinein, in dem du nicht sein möchtest.
w2eu: Warum wolltet Ihr nicht in Italien bleiben?
Jonathan: Weil es dort keine Menschenrechte gibt. Wir hatten nichts zu essen. Wir hatten keine Unterkunft. Die grundlegenden Dinge. Wenn wir diese grundlegenden Dinge nicht haben, sind wir gezwungen, ein unmenschliches Leben zu führen. Ohne ein Dach über dem Kopf lebt man wie ein Tier. Wir bekamen nichts von Italien, außer in der ersten Zeit als wir im Lager waren. Sobald du Papiere erhältst fordern sie dich auf: „Heute musst du gehen!“
Jetzt sind wir hierher gekommen, aber hier erhalten wir nur eine „Duldung“ und wieder werden uns unsere Menschenrechte verwehrt. Wir haben nicht mehr viel Geduld, um auf die Einhaltung unserer Menschenrechte zu warten.
w2eu: Ihr kamt nach Europa und wart zuerst in Italien. Wie habt Ihr realisiert, dass Italien nicht der sichere Ort ist, den Ihr erwartet habt? Wann ist Euch das klar geworden? Wusstet Ihr überhaupt, was Euch erwarten würde?
Samuel: In Europa überhaupt oder in Italien als einem Teil Europas? Wir hatten eine gewisse Vorstellung davon. Aber wir hätten niemals ein solches Leben erwartet, wie das in Italien. Es waren nicht ökonomische Gründe, die dazu führten, dass wir unser Land verließen. Es waren politische. Doch in Italien wurde unser Stress noch größer. Größer als wir erwartet hatten. Unsere Hoffnung war es nach England zu gehen. Aber schon als wir in Italien einreisten wurden unsere Fingerabdrücke registriert. Sie machten das Interview, gaben uns Papiere und sagten dann: „Verschwindet hier!“ Das bedeutet, raus auf die Straße. Auf die Straße, das heißt obdachlos sein, verstehst du? Wenn du nicht arbeiten darfst, wenn du nichts besitzt, das du verkaufen könntest, musst du das Leben eines Kriminellen führen, verstehst du? Sind wir also das Problem oder ist es ein Problem der Europäischen Union? Es ist ein Dublin-Problem. Wir sind nicht kriminell, aber die Situation ist es. Und du wirst es durch die Situation. Es ist sehr schwer in Italien zu überleben, als Mensch zu leben. Es ist sehr schwer! Sie sind so rassistisch. So viele arrogante Leute. Ich habe keine Worte um zu erklären wie das Leben in Italien ist. Denn ich habe in meinem Land ein solches Leben nicht gekannt. Und als ich mein Land verließ, hätte ich nie ein solches Leben in Italien erwartet. Ohne Zuhause oder Schutz.
w2eu: Was habt Ihr erwartet, wie Europa sein würde? Bevor Ihr kamt, was habt Ihr erwartet vorzufinden?
Osman: Ich hatte nie vor, in Italien zu bleiben und dort zu leben. Ich wollte nach England. Das war mein Traumland, in dem ich mein Studium fortsetzen wollte. Aber wie ich euch bereits gesagt habe, ich wurde in Italien durch Dublin eingeschlossen. Und so landete ich in den Straßen von Mailand und Rom. Ich konnte meinen Traum nicht verwirklichen. Wo du auch hingehst, sie schicken dich zurück. Selbst von Norwegen haben sie mich nach Italien abgeschoben. Das war’s.
w2eu: Du hattest also einen klaren Plan, wo Du hin wolltest. Was ist mit Aman? Viele haben eine klare Vorstellung, wohin sie wollen. Meist haben sie Verwandte oder Pläne für ein Studium oder anderes.
Aman: Wir verließen unser Land um unser Leben zu retten. Denn in unserem Land gibt es Verhaftungen, Morde und ähnliche Dinge. Als wir in den Sudan kamen, stellten wir fest, dass die Sudanesen selbst fliehen, um der schlechten Situation zu entkommen und Sicherheit zu finden. In Libyen war es dasselbe, das können wir auch jetzt beobachten. Und nachdem wir Libyen verlassen hatten und über die See nach Italien gelangten, stellten wir fest, dass die Umstände in Italien sich nicht sonderlich von der in Afrika unterschieden.
Ich würde in jedem europäischen Land bleiben, in dem ich die Chance zum Überleben hätte. Ich war in Italien und ich konnte dort mit meiner Schwester kein würdiges Leben finden, es war ein Leben nahe am Tod. Also trennten sich unsere Wege. Sie ging in die Schweiz und ich nach Norwegen. Wir wollten ein Leben haben; zumindest eines, das einem Menschen zumutbar ist. Das ist der Grund, weshalb wir Italien verließen. Und von Norwegen schickten sie mich zurück nach Italien. Aber noch immer war ein Leben in Italien nicht möglich, weshalb ich erneut das Land verließ und diesmal nach Deutschland kam.
Der Grund, warum wir hierher gekommen sind, ist nicht, dass wir arm sind oder hungern. Ginge es danach, haben wir ein besseres Leben in unserem Land. Das Leben in unserem Land ist besser als das, was wir hier erfahren, ich meine, wenn Frieden in unserem Land wäre.
Jonathan: Du fragst mich, was ich von Europa erwarte? Die Antwort ist einfach: die Chance zu überleben. Wir sind vor politischer Verfolgung geflüchtet und wir wollen einfach überleben.
Teame: Es ist überhaupt nicht so, wie wir es erwartet hatten. Wir kamen um zu studieren und zu leben, und das erste, was sie nach unserer Ankunft tun, ist, uns in ein Lager zu stecken das eher einem Viehstall ähnelt. Das geht eigentlich nicht zusammen, das ist ein Widerspruch. Statt über unsere Pläne nachzudenken und darüber, wie wir sie verwirklichen können, verzweifeln wir. Du findest dich selbst in einer Situation wieder, vor der du versuchtest zu fliehen, als du dein Land verlassen hast. Es ist schwer für mich. das zu verstehen.
Daniel: Lass mich über Italien reden. Leben in Italien ist einfach nicht gut. Nachdem wir 6 oder 7 Monate gewartet hatten, gaben sie uns unsere Dokumente und warfen uns aus dem Lager. Mit der Hilfe der Carabinieris! Mit Hilfe der italienischen Polizei warfen sie uns raus. Wir hatten Gründe unser Land zu verlassen, politische Gründe! Und in Italien konnten wir kein lebenswertes Leben finden. So wie alle anderen bin ich auch in anderen europäischen Ländern gewesen, in der Schweiz, in Frankreich und so weiter, bevor ich nach Deutschland kam. Natürlich wollen wir das gute Leben haben und in Italien konnten wir nicht einmal wie Menschen leben. Wir lebten die ganze Zeit auf der Straße, und gegen ein Leben auf der Straße entschieden wir uns zu reisen, um das gute Leben zu finden.
w2eu: Was hast Du dann getan, nachdem Du aus dem Lager raus geschmissen wurdest?
Daniel: Nichts. Ich meine, was sollten wir tun? Wo hätten wir hingehen sollen? Wir kannten das Land nicht. Wir haben eben 6 Monate im Lager verbracht wie in einem Versteck. Weigerst du dich zu gehen holen sie die Polizei. Die Polizei selbst ist das Gesetz. Das heißt, der Vollstrecker des Gesetzes selbst kommt und zwingt dich zu gehen. Und wenn du das Lager verlassen hast, wo sollst du dann hingehen? Du hast keine Wahl, du gehst halt zu dem Platz, wo die Leute sich sammeln, das heißt zum Bahnhof. Du nimmst deine Sachen mit und schläfst dort. Danach beginnst du über dein Leben nachzudenken und darüber, was als nächstes zu tun ist. Aber erst mal weißt du überhaupt nichts. Wenn du die Stadt nicht kennst und wenn du die ganze Zeit von den Menschen dort isoliert wurdest, wie sollst du herausfinden, wohin du gehen kannst? Du gehst zu dem Platz, an dem die anderen Flüchtlinge draußen schlafen. Wenn du losgehst und dein Leben auf der Straße beginnst, brauchst du jemanden, der dir hilft und der wie du in den Straßen schläft. Wenn du allein bist, läufst du Gefahr, angegriffen zu werden. Das ist mir passiert. Das ist das Leben in Italien.
w2eu: War es bei Euch auch so, dass Ihr aus dem Lager auf die Straße gesetzt wurdet?
Jonathan: Ich will es dir erzählen wie das bei mir lief. Ich war in einem Lager. Wir waren etwa 20 Leute, die ihre Papiere bekamen. Wir wussten, am nächsten Tag würden wir gehen müssen. Einige Tage zuvor wurden einem Somalier Papiere ausgehändigt und sie forderten ihn auf, zu gehen. Und einem somalischen Jungen gaben sie die Papiere und sagten ihm, dass er am nächsten Tag zu gehen hätte. Er sagte. „Ich gehe nirgendwo hin! Ich habe keinen Ort wo ich bleiben kann.“ Sie riefen die Polizei. Die Polizei kam und versuchte ihn zu zwingen, das Lager zu verlassen. Doch er blieb in seinem Zimmer und schrie sie an, so dass sie rein gehen und mit ihm reden mussten. Schließlich gaben sie ihm 15 Euro damit er geht.
An dem Tag, an dem wir das Lager verlassen sollten, weigerten wir uns auch. Wir sagten alle: „Wir werden nicht gehen!“ Sie gaben uns jeweils 15 Euro, offenbar wegen dem Somalier, mit dem sie das zuvor auch gemacht hatten. Mit 15 Euro kommst du allerdings nicht bis nach Rom. Wir waren in Sizilien, das war zu weit weg.
Wir waren telefonisch in Kontakt mit anderen, die sich ebenfalls in Lagern befanden, und sie erzählten uns, dass es bei ihnen ähnlich abläuft.
w2eu: Aman, in einer Unterhaltung, die wir neulich geführt haben, erzähltest Du, dass Ihr – müde von Verhandlungen mit dem UNHCR, in dem es um Unterbringung ging – einen Hungerstreik organisiert hättet.
Aman: Ja, wir sollten das Lager verlassen, also haben wir uns versammelt, diskutiert und beschlossen, dass wir nicht gehen werden, bevor uns nicht eine Unterkunft angeboten würde. Frauen und Minderjährige waren unter uns, ich hatte meine kleine Schwester bei mir. Wo sollten wir hingehen, wo schlafen? Was sollten wir trinken, was essen? Wieso sollten wir das Lager verlassen, ohne dass uns irgendwelche Möglichkeiten angeboten würden? Unsere Rechte müssen respektiert werden. Italien ist ein europäisches Land und muss uns Rechte garantieren.
Nachdem wir uns versammelt und über diese Dinge gesprochen hatten, teilten wir ihnen unsere Forderungen mit. Sie antworteten, dass es nicht möglich sei, diesen nachzukommen. Zum Beispiel versuchten sie einen Mann, dem politisches Asyl gewährt worden war, zum Gehen zu zwingen, indem sie in sein Zimmer gingen und ihn aufforderten, zu gehen. Er sagte ihnen, dass er ein politischer Flüchtling sei und dass er Rechte habe und dass sie ihm einen Platz geben müssten, wo er bleiben könne. Am Ende drohten sie ihm damit, die Polizei zu holen, wenn er nicht ginge. So verfahren sie üblicherweise.
Also sprachen wir mit dem Verwalter des Lagers. Er erklärte, dass ihr Auftrag darin bestehe, dafür zu sorgen, dass wir gehen, sobald wir unsere Papiere erhielten „und wenn ihr nicht geht, haben wir keine andere Wahl als die Polizei zu rufen“.
Wir waren insgesamt etwa 80 Leute. Wir verfassten eine Erklärung, in der stand, dass sie versuchen uns zu zwingen, das Lager zu verlassen, obwohl wir keine andere Bleibe haben und dass sie uns weder Geld für den Transport noch für Verpflegung gegeben hätten und dass wir uns unter diesen Umständen weigern, das Lager zu verlassen. Alle unterschrieben das Papier. Weil wir so viele Leute waren, konnten sie gegen uns nichts ausrichten.
Dann versammelten wir uns und begannen einen Hungerstreik. Wir blockierten die Cafeteria, so dass niemand hinein gehen konnte. Wir hatten uns einstimmig für diesen Hungerstreik entschieden. Auch die von Autos befahrene Straße am Eingang des Lagers blockierten wir. Der Leiter des Lagers drohte wieder damit, die Polizei zu holen, wenn wir nicht aufhörten und unserer Wege gingen. Aber die Polizei war aufgrund der Straßenblockade ohnehin auf dem Weg zu uns. Als sie ankamen, mussten wir die Blockade auflösen. Denn in Italien haben sie keine Skrupel, dich zu schlagen. Einige von uns haben sie geschlagen.
Zufällig kam Antonella vorbei, eine Frau, die für den UNHCR arbeitet. Ich erzählte ihr, was gerade passierte und gab ihr als Beispiel meinen Fall, dass ich mit meiner minderjährigen Schwester zusammen unterwegs sei und, dass ich nicht wüsste wohin ich gehen sollte. Die anderen sprachen ebenfalls mit ihr.
Sie ging in das Lager, um mit den Sozialarbeitern zu sprechen und sagte uns, sie würde berichten, was sie verhandelt hätten. Zurück erzählte sie, sie hätten versprochen, den Transport zu zahlen. Dass sie uns keine Unterkunft bieten könnten, begründete sie damit, dass kürzlich mehr als 38.000 Menschen in Italien angekommen und gleichzeitig nicht genügend Unterkünfte vorhanden seien. Das sei ein Problem, auf dessen Lösung der UNHCR selbst dränge. Sie versprach, wenn wir in Rom ankämen, wolle sie zu den Verantwortlichen Kontakt aufnehmen und versuchen eine Lösung für uns zu finden.
Nach 4 oder 5 Tagen wollten sie uns das Geld für den Transport noch immer nicht geben. Stattdessen versuchten sie weiterhin uns auf die Straße zu setzen. Es waren drei Parteien involviert: die Verantwortliche für das Lager, die Sozialarbeiter und die Einwanderungsbehörde. Der Leiter des Lagers sagte uns, er könne uns das Geld nicht geben und, dass wir zu den Sozialarbeitern gehen sollten. Die Leute im Sozialbüro sagten uns, sie seien nicht zuständig und wir sollten zur Einwanderungsbehörde gehen. Dort fragte der Beamte uns: „Haben sie euch gesagt, ihr sollt hierher kommen um das Geld zu erhalten?“ Wir sagten ja. Dann sagte er: „Stellt Euch hier an, ich werde Eure Namen aufschreiben.“ Als der Leiter des Lagers davon erfuhr, kam er angerannt und ebenso die Sozialarbeiter.
Sie begannen mit dem Einwanderungsbeamten zu diskutieren. Dann versuchten sie uns zu spalten und fragten, wer sie beschuldigt hätte, uns das Fahrgeld nicht gegeben zu haben. Aber wir antworteten, dass wir alle sie beschuldigten. Schließlich beschlossen sie, unsere Tickets zu zahlen. Sie fragten, wohin wir jeweils wollten, und gaben uns das Ticket. Ich hatte gehört, dass eine Menge Eritreer in Mailand seien und beschloss, mit meiner Schwester dorthin zu fahren, in der Hoffnung, etwas Unterstützung zu bekommen. Ungefähr 8 Leute wollten ebenfalls nach Mailand, so bekamen wir ein Gruppenticket und fuhren ab. An diesem Streik waren etwa 80 Personen beteiligt, Somalier, Ghanaer, Nigerianer, Eritreer… aus vielen unterschiedlichen Ländern.
w2eu: Einige von Euch haben dann später in anderen Städten weitere Proteste organisiert. Wo war das?
Daniel: In Rom haben wir etwas organisiert. Ein Komitee aus Mailand kam zu uns, zu denen, die auf der Straße schliefen. Wir haben uns dann alle versammelt und demonstriert. Wir waren sicher mehr als 100 Leute aus verschiedenen Teilen Italiens. Das war im Mai 2010. Wir gingen zusammen mit Eritreern, die schon länger als wir in Italien waren, zur Einwanderungsbehörde. Dort wurde uns gesagt, dass es in zwei Wochen eine Antwort gäbe. Bis dahin sollten wir zur Essensausgabe der Caritas gehen und die Antwort abwarten. Aber es kam keine Antwort, nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach sechs Monaten, zu dem Zeitpunkt, als ich Italien verließ.
w2eu: Also habt Ihr irgendwie versucht, in Italien zu überleben. Jemand sagte vorhin, dass das Leben auf der Straße nur in Gruppen möglich ist. Heißt das, allein kommt man in Schwierigkeiten?
Jonathan: Auf der Straße, alleine? Ja! Auf der Straße kannst du allein nicht überleben. Wenn du keine Bleibe hast und auf der Straße lebst, weißt du nicht, was dir passieren kann. Vielleicht kommen Betrunkene und greifen dich an. Mir ist etwas ähnliches passiert, als ich dort war. Eines Nachts kamen drei Männer und fragten mich, wieso ich auf der Straße schlafen würde. Sie erzählten mir, sie hätten einen Job für mich, also ging ich mit ihnen. Ich wusste nicht, was passieren würde. Wir gingen zu einem von ihnen nach Hause und dort gaben mir etwas zu essen. Sie begannen, zu trinken. Dann fingen sie an, mich anzufassen, ich meine auf sexuelle Weise. In meinem Land ist das ein Tabu, es ist nicht erlaubt. Ich flehte sie an, sagte, dass ich Christ sei und das nicht tun dürfe, aber sie fingen an, gewaltsam zu werden. Ich sah mich um und entdeckte die Fenster. Ich stieß den einen Mann weg und konnte so nach draußen entkommen. Ich glaube es waren zwei Tagen vergangen, als sie zurück kamen und mich mit einem Messer bedrohten. Zuvor hatten sie mir meinen Pass genommen, alles, meine Dokumente, sie nahmen mir alles. Selbst nachts, als ich schlief kamen sie, so dass ich meinen Platz wechseln musste. Ich versuchte, zu entkommen, aber sie wussten, wo ich mein Essen bekam, bei der Essensausgabe der Caritas – es gibt nur diesen einen Ort. Sie kamen immer wieder dorthin und beschimpften mich. Eines Tages waren sie zu zehnt und betrunken. Sie jagten mich und ich versuchte wegzulaufen. Ich rannte und sprang in irgendeinen Zug. Ich wusste nicht, wohin er fuhr.
Es ist eine lebensgefährliche Sache auf der Straße zu leben als Flüchtling und deshalb brauchen wir Schutz. Du hast keine Menschenrechte. Das weiß ich jetzt. Ich kam nach Deutschland und ich warte noch immer. Wenn die deutsche Regierung entscheidet, mich zurück nach Italien abzuschieben, werde ich entscheiden, in mein Land zurück zu gehen. Denn es macht keinen Unterschied für mich.
Samuel: Eigentlich vermisse ich die Gefängnisse in meinem Land. (Er lacht) Warum? Dort erfährst du physische Folter. Und ich liebe sie (lacht wieder) – sie ist besser als die psychische Folter, die du hier erlebst. Selbst im Sudan, wo dir vieles widerfährt. Und genauso in Libyen. Ich war in Libyen und ich brauchte vier Versuche, um nach Italien zu kommen. Fast 2 Jahre und 4 Monate meines Lebens habe ich im Gefängnis verbracht. Und dennoch ist das besser als Italien.
Osman: Wenigstens hattest du zu dem Zeitpunkt noch Hoffnung.
Samuel: Ja, du gibst eine Menge Geld aus. Weil du erwischt wirst und die Leute zwingen dich dann, weitere Hunderter zu zahlen. Zu viel Mühe für unsere Verwandten, für die ganze Familie. „Hey, was machst du? Wir warten!“ sagen sie. Als wir in Italien waren, mussten wir mit allen möglichen Leuten auf der Straße leben, mit Drogenabhängigen und anderen. Als ich in Rom war, nahm die Polizei Osman und mich fest und brachte uns in die Questura. „Was haben wir verbrochen?“ „Wir müssen euch überprüfen, wir müssen euch nur überprüfen.“ Die meisten, die auf der Straße leben, sind Drogenabhängige. Wir waren das nicht. Nach etwa 10 oder 15 Stunden ließen sie Osman gehen, mich selbst nach 24 Stunden. Und weißt du, was wir dafür unterzeichnen mussten? Wir seien „Drogenhändler“!
Osman: Sie haben uns beschuldigt, Drogenhändler zu sein. Wir wurden gezwungen zu unterschreiben.
w2eu: Ihr wurdet gezwungen, das zu unterschreiben?
Samuel: Ja, uns wurde nichts übersetzt. Nur, wenn du unterschriebst, konntest du gehen. Wenn du nicht unterschreibst, dann nicht. Immer zwingen sie dich. Das ist ein Problem. Sie könnten dich beschuldigen, jemanden getötet zu haben, wer weiß. Es kam immer wieder zu solchen Situationen. Es ist ein wirklich hartes Leben in Italien. So viele Menschen leiden unter diesen Bedingungen. Ob du nach Kalabrien gehst oder in den Norden, an jeden Ort in Italien, die Bedingungen sind die gleichen. Im Lager in Caltanissetta – ich war in Caltanissetta, Sizilien – erzählen sie dir, dieses Land habe viele verschiedene Orte. Du könntest nach Mailand oder Rom gehen. Wir flüchten die ganze Zeit, weißt du? Unser Leben ist wie das Leben eines Obdachlosen – wir schlafen auf einer großen Straße ohne Hoffnung. Wir überleben, atmen, schlafen. Sie haben eine Entscheidung für uns getroffen: „Du hast keine Rechte!”. Das ist die Bedeutung von Dublin. Es gibt keinen anderen Weg. Das habe ich zweieinhalb Jahre in Rom erlebt.
w2eu: So lange? Zweieinhalb Jahre?
Samuel: Auch diese Hilfsorganisationen, ich weiß nicht, sie scheinen nicht besonders gebildet zu sein. Sie beklagen sich nur: „Es sind zu viele Einwanderer – stragneri – in unserem Land.“ Währenddessen leiden so viele Menschen. Das ist ein Leben, das wir jahrelang geführt haben, und wir erzählen es jetzt innerhalb von Minuten. Wenn ich euch alles erzählen würde, könnten wir ein Buch daraus machen. Vielleicht werde ich ein Buch schreiben über mein Leben – auch über die Zeit in Libyen, Sudan, Eritrea. Ein tragisches Leben.
Im Großen und Ganzen ist Dublin für Menschen wie wir, für die ohne Hoffnung und ohne Stimme. Und es ist einfach nicht gerecht. Der Fingerabdruck ist ein verstecktes Gefängnis für uns. Aber die Leute sehen diese Wahrheit nicht. Ich klage alle Europäer an. Sie sehen nur Dublin, Dublin, Dublin…. Wenn du Kriminelle kontrollieren willst, dafür gibt es Interpol. Aber wozu wollen sie uns kontrollieren? Wir haben nichts gemacht. Wir haben keine Bombenanschläge verübt. Sie bringen uns dazu, Kriminelle zu werden, weißt du? Mit diesem Gesetz treiben sie uns in diese Richtung. Diese Dublin-Verordnung provoziert Streit. So viele Nigerianer, Somalier, Eritreer an einem Ort, die sich gegenseitig bekämpfen. Bekämpfen, weil das Leben so hart ist. So etwas passiert, wenn man so eng aufeinander sitzt wie hier. Ohne dass du es möchtest, berührst du jemanden. „Warum hast du mich angefasst?“ und dann geht’s los. Aufgrund von zu viel Stress. Das ist das Problem mit Dublin. Wenn du fliehst, solltest du zu allen europäischen Staaten Zugang haben. Du solltest Zugang zu Arbeit und zu einem Leben, wie dem aller anderen Europäer, haben. Für euch ist das frei, denke ich. Das ist Diskriminierung von Migranten. Die ganze Zeit siehst du Nachrichten über das nackte Überleben in Afrika. Aber das nackte Überleben in Europa, warum machen sie das nicht publik? Es ist ein verstecktes Verbrechen. Niemand möchte diese Wahrheit sehen. So viele Frauen, die auf den Straßen arbeiten müssen. Sie müssen dieses Leben leben, weil sie ihr Leben verändern wollten. Einige waren in ernsthafter Gefahr. Das sind Probleme, die Dublin verursacht.
Teame: Ja. Wir sind in einer wirklich schlechten Situation. Wie Samuel bereits sagte, sie treiben dich in eine schlechte Richtung. Sie behandeln uns wie Drogendealer, wie Bombenleger. Weißt du, so etwas zu tun, wäre nicht das Schwierigste. Wir sind während des Krieges geboren und wir wuchsen auf inmitten von Kriegen. Aber wir kamen mit guten Absichten und unseren Hoffnungen – und dann brechen sie dich. Dublin gibt dir das Gefühl, nichts hätte mehr einen Sinn, nichts bedeute mehr etwas. Dublin muss brennen!
w2eu: Nur hat „Dublin“ keinen Ort, den Du zerstören kannst und dann ist es vorbei.
Samuel: Ja, wie ich vorhin sagte, es ist ein verstecktes Verbrechen.
w2eu: Es ist versteckt und es ist ein…
Samuel: …. eine Sackgasse.
Aman: Weißt du, In Afrika oder anderswo richten die die Regierungen sich direkt gegen die Menschen. Und das wird von Ländern wie den USA oder europäischen Ländern kritisiert. Sie üben Druck gegen diese Länder aus, weil dort diktatorische Regime herrschen. Das ist so offensichtlich in Afrika oder Asien. Aber es passieren auch Dinge in Europa, und sogar Deutschland ist involviert, Norwegen ist involviert. Das ist nicht nur ein Problem von Italien. Denn dass es ein Problem in Italien gibt, ist nicht zu übersehen, weder für Deutschland, noch Norwegen oder die Niederlande. Sie wissen das, sie haben Diplomaten in diesem Land. Sie schaffen es zu sehen, was in Afrika oder Asien falsch läuft. Aber was Italien betrifft: obwohl sich die Probleme dort direkt vor ihren Augen befinden, verhalten sie sich so als sähen sie nichts. Denn als sie die Dublin Regelung einführten, taten sie dies bewusst, um Ausländern den Zutritt in ihr Land zu verwehren. Das Problem ist also nicht ausschließlich eins von Italien, Griechenland oder Malta. Alle Staaten, die die Dublin Regulation unterzeichnet haben, sind in der Pflicht.
w2eu: Aber sie werden sicher nicht freiwillig handeln. Was könne wir also tun, ist das nicht eher die Frage?
Osman: In Norwegen, als ich das erste Mal einen Asylantrag stellte, fragte ich den Polizisten, der mich interviewte: „Wie kommst du darauf, Verfolgung existiere nur in Afrika? Was ist mit Italien? Folter gibt es auch in Italien, nicht nur in Afrika.“ Aber er antwortete nur, die Schuld läge bei Italien, es sei Italiens Problem und wenn ich meine Fingerabdrücke in Italien habe, sei das mein Problem. Ich war schockiert, ich konnte nichts mehr sagen.
Die Folter war die gleiche wie in meinem Heimatland, aber dort hatte ich wenigstens Hoffnung… Ich war noch nie so hoffnungslos wie jetzt, seit ich in Europa bin. Ich kann nicht mehr von besseren Tagen träumen. Denn egal wohin ich gehe, ich lande immer wieder in Italien. In denselben Straßen. Dublin hat mich alles gekostet, alles wofür ich mein Leben lang gearbeitet habe. Deshalb bin ich wütend darüber.
w2eu: Was wäre, wenn es keine Dublin Regelung gäbe, Fingerabdrücke keine Rolle spielten… Was hättest Du getan? Was hättet Ihr erreicht?
Samuel: Vielleicht… also ich würde mich gerne niederlassen. Ich möchte in einem besseren Land leben. An einem besseren Ort, aber Dublin hält uns gefangen. Du bist in der Falle, in der Falle wie eine Maus. Das war’s, der Traum ist aus. Du stehst da wie ein Krimineller. Wir sind alle Verbrecher, weil uns die Fingerabdrücke abgenommen wurden. Wir erfinden oft Witze darüber und machen uns lustig: „Oh, du hast den Virus, weil du deine Fingerabdrücke abgeben hast…“
w2eu: Den Fingerabdruck-Virus?
Samuel: Wir haben eine Menge Witze über Fingerabdrücke… Manchmal erfindet das Leben selbst die Witze.
w2eu: Fallen Dir noch mehr Dublin Witze ein?
Samuel: Gerade fallen mir keine ein, aber es gibt eine Menge.
w2eu: Wenn Dir welche einfallen, erzähl sie mir bitte. Das interessiert mich.
Osman: Jeder bezeichnet Italien als „unser Heimatland“. Als ich von Norwegen abgeschoben wurde und am Mailänder Flughafen landete, fragte mich ein Polizist: „Warum bist du überhaupt nach Norwegen gegangen?“ In einem ironischen Ton sagte ich: „Vergiss es, jetzt bin ich ja wieder zurück in meinem Heimatland.“ – „Du bist hier nicht zu Hause. Du bist schwarz – jetzt verlasse diesen Flughafen“, das antwortete er mir.
Samuel: Ja, es gibt da eine witzige Geschichte, die ich erzählen kann. Es geht um Zug fahren. Wir zahlen nicht für Fahrkarten, oder zumindest nicht den Preis, den wir zahlen müssten. Das ist unser einziges „Verbrechen“, speziell das von Eritreern. Wir fahren mit dem Hochgeschwindigkeitszug Eurostars und wir gehen an die Top-Plätze mit den Top-Leuten, weißt du, die VIPs. Wir sitzen. Wir setzen uns mit ihnen in die 1. Klasse. Dann kommt der Kontrolleur und fragt: “Dov’è tuo biglietto? Verstehst Du? Dov’è ticket? No? Vaffanculo! Non c’e l’hai biglietto ancora ti prendi questo treno? Das ist der falsche Zug. Wir haben euch doch gesagt, ihr sollt den anderen Zug nehmen und ihr sitzt auch noch in der 1. Klasse?“ Wir setzen uns immer in die 1. Klasse, 220 km/h, so reisen wir. Zwischen Mailand und Rom, die Strecke ist ziemlich bekannt. Wir nehmen den ICE. Selbst Leute, die einen guten Job haben, fahren nicht mit diesem Zug. Wir müssten eigentlich den einfachen Interrail nehmen. Jedenfalls versucht der Kontrolleur, unsere Adresse auf zu schreiben, aber wir haben keine Adresse. „Where are your streets?“ – „We don’t have streets. We are homeless, we have no address.“ – „Dov’è la tua via? Where is your street?“ – „Tutta Milano – Ganz Mailand.“ (alle lachen). Es gibt viele solche Geschichten.
Einmal als ich in Rom war und ohne Ticket gefahren bin, haben ein paar Kontrolleure mich am Bahnhof Ponte Mammolo erwischt. „Ticket“ – „Ich habe kein Ticket“ – “Vaffanculo, perché no ticket? Wieso hast du kein Ticket?“ – „Ich habe kein Ticket. Wenn du meine Papiere möchtest, kann ich sie dir geben.“ Okay, sie nehmen meine Daten auf. Einer von ihnen kannte mich. All die Jahre habe ich nicht bezahlt. Der eine Mann, der mich kannte, sagt „Amico, ich glaube, deine Schulden liegen jetzt bei fast 100.000 Euro.“ – „Ja, ja.“ sag ich. „Fast 100.000 Euro!“, wiederholt er. „Oh! Warum sind das Tausende Euros?“ fragten die anderen Reti, das ist der Name des Kontrolleurs, der mich kennt. „Per quale motivo? Was ist das motivo? Warum kaufst du kein Ticket?“ – „Non ce labor. Keine Arbeit.“ – „Alora, und wer soll das ganze Geld bezahlen?“ – „Oh, keine Sorge. Der Papst wird das Geld schon zahlen.“ (Gelächter) „Der Papst übernimmt die Verantwortung für uns. Wir sind cattolico.“
Es gibt eine Menge Witze über das Leben in Italien. Es geht uns nicht gut dort, aber wir machen uns auch auf diese Weise darüber lustig.
Osman: Manchmal, wenn wir erwischt werden ohne Ticket, fragt uns die Polizei wieso wir kein Ticket hätten. „Wir haben keine Arbeit und kein Geld“, antworten wir dann. Einmal hat ein Polizist darauf gesagt: “Warum verkauft ihr keine Drogen?“ Das sagt ein Polizist! Das ist es, was er uns vorschlägt. Er fügte noch hinzu: “So wie eure Brüder. Geht doch auch Drogen verkaufen.“
Samuel: Wir könnten noch viele solche Geschichten erzählen. Das sind Sachen, die wirklich passieren. Jetzt lachen wir darüber. Aber die Wahrheit, die darunter liegt, die Realität darunter ist: Wir leiden.
Manchmal finden wir einen Job, weißt du, für ein, zwei Monate. Und dann zahlen sie nicht. Sie zahlen dir dein Geld nicht. Wenn du dann zur Polizei gehst, sagen sie nur: „Wieso hast du dir keinen Job über die cooperativa, agencia gesucht. Über die muss das laufen.“ Diese Agentur ist nur Bürokratie, sie sind nicht hilfreich, sie nehmen nur Geld von dir.
So leiden eine Menge Menschen. Sie zahlen dir 25 Euro für einen ganzen Tag, 15 Stunden Arbeit. So läuft das mit Jobs in Italien. So oft, so viele Dramen…
w2eu: So werdet Ihr Eurer Rechte beraubt.
Samuel: Ja, egal ob du Papiere hast oder nicht, es ist macht keinen Unterschied. Selbst wenn du einen Job finden solltest, kannst du mit deinem vorläufigen Papier nicht arbeiten. Also musst du warten, bis die richtigen Dokumente ausgestellt werden, und das dauert ein Jahr. Ein Jahr auf Papiere warten zu müssen, da gehst du lieber in ein anderes Europäisches Land. Du hoffst, wenn sie sich nicht um deinen Fall kümmern, könnte es doch auch sein, dass sie deine Fingerabdrücke nicht ordentlich abgenommen haben…
Jonathan: Dublin wirkt sich auch auf unsere Beziehungen zu Frauen aus. Besonders in Norwegen haben einige von uns viel darüber gelernt. Ihr geht zusammen aus und nach einer Weile, wenn sie weiß, dass du „fingerprinted“ bist, läuft sie davon, als hätte sie den Teufel persönlich gesehen (alle lachen). „Oh du hast Fingerabdrücke in Italien – oh, tut mir leid!“ Sobald sie weiß, dass du abgeschoben werden könntest, ist es vorbei.
Samuel: Ein Freund von mir war in Schweden. Jetzt ist er wieder zurück in Italien. Damals in Schweden erzählte ihm ein Bekannter, dass er „fingerprinted“ ist und so stellten sie fest, dass sie beide mit dem „fingerprint-virus“ infiziert sind. Dieser Bekannte lernte eine Frau kennen und sie beschlossen, zu heiraten. Er erzählte meinem Freund, dass er sie nicht wirklich liebe, sondern nur Papiere haben wolle, um in Schweden bleiben zu können. Sie erfuhr davon und sagte zu ihm: „Okay, ich habe mitgekriegt, was du erzählt hast, aber ich werde dich trotzdem heiraten, weil ich es dir bereits versprochen habe. Aber wir beide sind nicht mehr zusammen!“ So kam er dann an seine Dokumente, aber die beiden hatten sich getrennt. Er zeigte meinem Freund die Papiere und sie unterhielten sich darüber. Der Bekannte fragte meinen Freund: “Und? Wie sieht’s mit dir aus?“ – „Ich warte immer noch. Ich glaube, ich werde nie erfahren ob sie meine Fingerabdrücke gefunden haben oder nicht. Und du?“ Der Bekannte antwortete: „Ich habe einen humanitären Status bekommen.“ Die Frau hatte das ermöglicht. „Ich habe bereits Papiere, also mach dir keine Sorgen, Bruder. Wenn sie dir keine geben, heirate ich dich eben.“
Ah, mir fällt noch ein Witz ein: Ein Mann geht mit seiner Freundin eine Straße entlang. Sie waren ausgegangen und betrunken. Sie stolperte. Er hielt sie und fragte: „Bist du okay, mein Papier?“ (alle lachen)
Das waren jetzt einige Dublin-Witze. Das werden Erinnerungen sein, wenn wir zurück in unserer Heimat sind.
w2eu: Aman, nochmal zurück zu unserer Frage, was denkst Du, wo Du jetzt wärst ohne Dublin? Wahrscheinlich irgendwo mit Deiner Schwester zusammen?
Aman: Ja! Wenn das Leben in Italien gut gewesen wäre, wäre ich mit meiner Schwester dort geblieben. Immerhin ist italienisch zur Hälfte tigrinya. Die Sprache ist uns vertraut. Aber wenn es kein Dublin gäbe und die Situation in Italien so wäre wie jetzt, hätten meine Schwester und ich gemeinsam das beste Land ausgesucht, eines das unsere Rechte respektiert, in dem wir studieren und das erreichen können, was wir wollen.
Daniel: Schaff Dublin jetzt ab und du wirst sehen, wohin ich gehen würde! Aber Italien, mit oder ohne Dublin, dort würde ich nicht bleiben. Da gibt es eine Geschichte, die ich nie vergessen werde. Als ich damals im Lager war, kam eine Frau vom UNHCR, um uns zu besuchen. An dem Tag gab uns das Personal ordentliche und saubere Kleidung. Nachdem die UNHCR-Vertreterin uns gesehen hatte und wieder gegangen war, nahmen sie uns die Kleidung wieder weg. Macht Sinn, oder? (Lachen) Am Morgen hatten sie noch die Tische sauber gemacht und frische Tischdecken drauf gelegt und am Abend, als sie wieder weg war, erzählten sie uns, wir hätten die Kleidung durch einen Irrtum erhalten und müssten sie wieder zurück geben. Vielleicht brauchten sie es ja für ein anderes Lager, das besucht werden sollte. Deshalb würde ich niemals in Italien bleiben wollen, Dublin hin oder her. Aber in anderen Europäischen Ländern würde ich gerne leben wollen.
Samuel: Dublin, ohne Dublin, das würde bedeuten, ich wäre ein Vogel und könnte fliegen. Ich würde mein Studium fortsetzen, heiraten und ein besseres Leben führen wollen.
w2eu: Was würdest Du studieren wollen?
Samuel: Mein Hobby, etwas Soziales – Sozialarbeit, Soziologie. Vielleicht würde ich auch Jura studieren. Das war meine Hoffnung, aber das ist jetzt nur noch ein Traum. Ohne Dublin würde ich fliegen wie ein Vogel.
w2eu (zum Übersetzer): Aziz, ich habe auch eine Frage an Dich. Du hast auch einen Asylantrag in Deutschland gestellt, aber Du hast nie als Flüchtling in Italien gelebt. Wenn Du jetzt all diese Geschichten hörst, was geht Dir da durch den Kopf?
Aziz: Schock, ich bin geschockt und erstaunt… Es ist jenseits jeder Vorstellung was die anderen erzählen. Mit diesem Mann hier zum Beispiel, mit dem ich mir das Zimmer in diesem Lager teile, wir unterhalten uns manchmal über seine Zeit in Italien. Die Geschichten, die er mir erzählt und die Bedingungen, die diese Leute gezwungen waren zu durchleben, sind unglaublich und extrem schwierig. Ich denke, ich weiß nicht genau, was es mit dieser Dublin-Regelung auf sich hat. Ich weiß nichts über die Motive der Regierungen, solch ein Gesetz zu beschließen. Aber es ist offensichtlich, dass dieses Gesetz unerträglich ist und enorme Probleme verursacht.
All diese Menschen sind in dieses Land gekommen und könnten Teil des Produktionsprozesses sein. Sie sind gute Bürger, sie zeigen Verantwortung ihren Familien gegenüber und sie sind keine Kriminellen. Sie haben nicht vor, irgend jemandem zu schaden. Sie sind hierher gekommen, um Frieden zu finden und ein anständiges Leben als produktive Mitglieder der Gesellschaft führen zu können.
Ich denke, Europa sollte darüber nachdenken, wie diese Leute zu integrieren sind und wie sie zu einem Teil des produktiven Prozesses werden können. Ihnen sollte Schutz gewährt und ein anständiges Leben ermöglicht werden, so dass sie nicht nur sich selbst helfen, sondern auch Positives zur Gesellschaft beitragen können.
Die Verantwortlichen sollten hinschauen und begreifen, was sie im Leben dieser Menschen angerichtet haben. Wir sind hier aufgrund von Problemen in unseren Heimatländern und sobald diese gelöst sind, möchten wir wieder zurück in unsere Länder. Wenn die Situation sich gebessert hat und wir wieder zurückkehren, möchten wir die Zeit, die wir hier verbracht haben, als eine gute in Erinnerung behalten.
Also, ich bin der Meinung, dass die Dublin-Regelung überarbeitet werden sollte. Es sollte genau betrachtet und kritisch ausgewertet werden. Die Verantwortlichen für diese Regelung haben sich entweder keine Gedanken gemacht darüber oder bewusst in Kauf genommen, dass das Leben all dieser Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird.
Wenn es ihnen nur um Ausgrenzung geht, darum, Mauern zu errichten, Festungen zu bauen – das ist keine gute Idee. Nicht Mauern, sondern Brücken sollten sie bauen und Menschen die Chance auf ein besseres Leben geben, an welchem Ort auch immer. Dies ist eine kleine Welt und wir beeinflussen uns gegenseitig. Die Probleme in Afrika werden auf verschiedene Weise die Menschen hier beeinflussen.
Ich spreche hier mit nur wenigem Wissen über all diese Dinge, aber das sind meine Gedanken dazu.
w2eu: Aziz, Du sagst, Du hättest ein begrenztes Wissen über Dublin, das behaupten wir auch über uns – Ihr seid es, die das meiste darüber wissen. Ihr durchlebt Dublin. Wenn Ihr einen Rat an die Europäischen Regierungen richten könntet, welcher wäre das? Was soll mit Dublin geschehen?
Osman: Einfach abschaffen, das ist der Rat. Nur das. Ändert Eure Haltung, das ist der zweite Rat.
w2eu: Das ist ein klares Statement!
Samuel: Wir fordern, gut behandelt zu werden, uns zu respektieren und uns unsere Rechte zu geben. Das war’s.
Aman: Ich würde ihnen raten, die Regelung zu revidieren.
Daniel: Was soll ich ihnen sagen? Ich würde ihnen raten, es zu ermöglichen, dass Leute Italien verlassen und in andere Länder gehen können. Sie sollen sie durch Relocation darin unterstützen, so dass diese Menschen ein besseres Leben haben können.
w2eu: Vielen Dank Euch allen. Bevor ich die Aufnahme stoppe, gibt es etwas, das noch gesagt werden muss? Möchte jemand noch etwas hinzufügen?
Osman: Eigentlich bin ich es müde, über Dublin zu sprechen. Die letzten zwei Jahre habe ich damit verbracht, über Dublin zu sprechen. Das ist alles.
* Die „Dublin-II-Verordnung“ regelt, welches europäische Land für die Bearbeitung eines Asylantrages zuständig ist. Dabei folgt die Verordnung mit wenigen Ausnahmen dem Verursacherprinzip. Das Land, welches die Einreise des Asylsuchenden „verursacht“ hat, weil seine Botschaft ein Visum ausgestellt hat oder weil es an der Grenze nicht ordentlich aufgepasst hat, soll für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein. Stellt der Flüchtling einen Asylantrag in einem anderen Land und wird dies anhand eines Eintrags in der europäischen Fingerabdruck-Datenbank EuroDAC oder aufgrund sonstiger Nachweise festgestellt, so erfolgt die Abschiebung in den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Staat.