Erst im August haben wir unseren letzten Newsletter verschickt, und seitdem hat die juristische Auseinandersetzung um das Dublin II-System auf der europäischen Ebene an Schärfe gewonnen: Mittlerweile haben fünf Staaten Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt resp. aussetzen müssen. Hintergrund ist vor allem das vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte laufende Verfahren MSS gg. Belgien/Griechenland.
Im letzten Newsletter hatten wir über eine Vorlage des höchsten irischen Gerichts zum EuGH berichtet. Nun hat auch der Court of Appeal Englands und Wales eine weitere Vorlage eingereicht, die dem Thema Dublin II noch wesentlichere europarechtliche Bedeutung verleiht.
Morgen, am 28. Oktober wird zudem das Bundesverfassungsgericht mündlich über Dublin II verhandeln. Seit der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im September 2009 hat sich also europaweit ein Prozess in Bewegung setzt, der in der Abschaffung von Dublin II enden könnte. Zwar bemüht sich derzeit die Europäische Kommission wie auch die belgische Ratspräsidentschaft um eine Reform (Dublin III), doch selbst geringfügige Modifikationen werden vehement von einigen nicht näher genannten Mitgliedsstaaten der EU blockiert. Es wäre keine Überraschung, wenn vor allem Deutschland am Status Quo festhalten wollte, weswegen dem ausstehenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts weiter grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Ebenso bemerkbar ist eine Diskursverschiebung. Im Rahmen der Berichterstattung über die Flüchtlingssituation in Griechenland sind vermehrt Töne hörbar, die das Dublin II-System als Ganzes kritisieren, da es alleinig den Ländern an der europäischen Außengrenze die Verantwortung für Flüchtlingsschutz zuweist. Auch das Netzwerk Welcome To Europe hat einen ersten Blick nach Ungarn geworfen, welches hinsichtlich Dublin II zum zweiten Griechenland werden könnte.
Währenddessen spitzt sich die Lage in Griechenland weiter zu, und die Europäische Union wird zum ersten Mal die Schnelleingreiftruppen der Grenzschutzagentur Frontex mobilisieren, um in Griechenland aktiv zu werden. In unseren Augen verweist dies auf die zentrale Schieflage in der europäischen Migrationspolitik: Nicht das Wohl der MigrantInnen und Flüchtlinge steht im Vordergrund, sondern lediglich technische Maßnahmen der Abschottung und Delegierung. Denn ansonsten würden nicht Grenzschutzbeamte nach Griechenland geschickt werden, um in einer humanitären Krise zu intervenieren.
In diesem Newsletter: Verfahren vor dem Europäischem Gerichtshof und dem Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte +++ Aussetzung von Abschiebungen nach Griechenland +++ Situation in Griechenland +++ Wird Ungarn das nächste Griechenland? +++ Materialmappe für die Beratung von Flüchtlingen im Dublin-Verfahren
Verfahren vor dem Europäischem Gerichtshof und dem Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte
Mit einem aufsehenerregenden Beschluss hat der Court of Appeal Englands und Wales am 12. Juli 2010 dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft in Luxemburg sieben Fragen zur Vereinbarkeit von Abschiebungen nach Griechenland mit EU-Recht vorgelegt. Konkret geht es um die Vereinbarkeit von Dublin II-Überstellungen nach Griechenland mit der Europäischen Grundrechtecharta sowie um die Frage, ob das Asylverfahren im Zielstaat durchzuführen ist, wenn der eigentlich zuständige Staat die europäischen asylrechtlichen Richtlinien (Qualifikationsrichtlinie, Verfahrensrichtlinie, Richtlinie über die Mindestaufnahmebedingungen) nicht umgesetzt hat. Der Vorlagebeschluss geht damit weit über die Griechenland-Problematik hinaus, denn auch in anderen Mitgliedsstaaten werden die Richtlinien nicht umgesetzt und die Rechte aus der Grundrechtecharta missachtet.
Das Verfahren beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft macht erneut deutlich, dass die Dublin II-Verordnung ein europäisches Rechtsproblem ist. Selbst wenn die nationalen Verfassungsgerichte beschließen sollten, dass Abschiebungen nach Griechenland und die Dublin II-Verordnung selbst mit den nationalen Verfassungen im Einklang stehen, so ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Der auch für Nicht-JuristInnen lesenswerte Beschluss findet sich hier:
► http://dublin2.info/files/2010/10/UK_Court_of_Appeal.pdf
Am 1. September 2010 fand die Verhandlung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg statt: In dem Fall MSS gg. Belgien/Griechenland klagt ein afghanischer Asylsuchender gegen seine Abschiebung aus Belgien nach Griechenland, die schon im Juni 2009 vollzogen wurde. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurde ihm in Griechenland keine Möglichkeit gegeben, seinen Asylantrag in einer ersten Anhörung zu begründen. Gegenstand des Verfahrens sind die Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter) und 13 (Recht auf wirksame Beschwerde).
► http://bit.ly/bnuZPD
Der UNHCR, der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg sowie Amnesty International haben in dem laufenden Verfahren Stellungnahme als Dritte abgegeben. Besonders die ersten beiden üben eine sehr eindeutige Kritik am derzeitigen Zustand des griechischen Asylsystems.
UNHCR ► http://dublin2.info/files/2010/10/UNHCR_ECHR.pdf
Hammarberg ► https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=1661397
amnesty ► http://www.amnesty.org.au/news/comments/23568/
Aussetzung von Abschiebungen nach Griechenland
Die EU bzw. Dublin-Assozierten Staaten England, Niederlande, Belgien und Norwegen haben Rückabschiebungen nach Griechenland eingestellt.
Das britische Innenministerium verfügte am 17.09.2010, dass bis zur Beantwortung der Vorlage des Court of Appeals (s.o.) durch den EuGH keine Überstellungen nach Griechenland mehr durchgeführt werden und England in den Griechenland-Fällen das Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin 2-VO ausübt.
► http://dublin2.info/files/2010/10/home.office.UK_.on_.Greece.pdf
Auch die Niederlande haben am 13, Oktober Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland gestoppt, ebenso wie Norwegen am 12. Oktober. Dänemark hat lediglich 203 Abschiebungen nach Griechenland vorübergehend gestoppt.
Niederlande ► http://www.dutchnews.nl/news/archives/2010/10/some_1900_refugees_wont_be_sen_1.php
Norwegen ► http://www.vg.no/nyheter/innenriks/artikkel.php?artid=10033623
Dänemark ► http://jp.dk/indland/indland_politik/article2193179.ece
Der Belgische Staatssekretär für Migration und Asylpolitik Melchior Wathelet hat die Aussetzung von Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland in einer Pressemitteilung vom 10. Oktober offiziell bestätigt. Die belgische Regierung hat beschlossen – wie bisher nur England – bis zum Urteil im Fall MSS gg. Belgien/Griechenland neben der Aussetzung von Dublin II-Abschiebungen die Asylanträge selbst zu prüfen und damit Gebrauch vom Selbsteintrittsrecht zu machen.
► http://bit.ly/c9hfau
Mit den Abschiebestopps reagierten die Länder auf ein Schreiben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, in dem es dazu aufgefordert hat, keine Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland vorzunehmen. In dem Brief warnt der EGMR, dass er andernfalls alle weiteren Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland, die ihm zur Prüfung vorgelegt würden, pauschal aussetzen würde. Der EGMR ist derzeitig mit Beschwerden gegen Griechenland-Abschiebungen völlig überlastet.
Situation in Griechenland
In Griechenland spitzt sich die Situation von Flüchtlingen weiter zu. Besonders in Athen kommt es vermehrt zu faschistischen Übergriffen auf Flüchtlinge. Das Netzwerk Welcome To Europe hat dies unter dem Titel „The Jungle of Athens“ in mehreren Folgen dokumentiert.
► http://w2eu.net/tag/jungle/
Über das Jahr 2010 haben sich die Flüchtlingsbewegungen in Griechenland in den Norden verschoben. Während auf den Inseln kaum mehr Flüchtlinge von der türkischen Küste kommen, wird die Landgrenze am Fluß Evros im Norden derzeit von vielen Flüchtlingen irregulär überschritten. Im Allgemeinen wird eine Zahl von 300 – 400 irregulären Grenzübertritten pro Tag gemeldet, am ersten Wochenende im Monat Oktober waren es nach Aussagen des griechischen Ministers für Bürgerschutz sogar 1.400.
Am 24. Oktober 2010 hat die griechische Regierung die EU gebeten, die Schnelleingreiftruppen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in Griechenland einzusetzen. Die als Rapid Border Intervention Teams (RABIT) bezeichneten bewaffneten Grenzschutztruppen sollen an der Landgrenze zur Türkei in der Evros-Region den griechischen Grenzschutz verstärken.
Pro Asyl hat nach einer Recherchereise in die Evrosregion festgehalten, dass dort alle aufgegriffenen Flüchtlinge unter humanitär unhaltbaren Bedingungen inhaftiert werden.
► http://bit.ly/duJoHp
Währenddessen schreitet der Umbau des griechischen Asylsystems kaum voran. Weiterhin ist die gesetzliche Grundlage der Präsidialerlaß von Juli 2009, der keine Berufung gegen eine Asylentscheidung vorsieht. Ein für September 2010 angekündigtes Übergangsdekret, welches vor allem eine Prozedur für die rund 50.000 seit 1999 liegengebliebenden Fälle aufzeigen soll, ich wiederholt verschoben worden und wird nun für November erwartet. Es soll auch eine Berufungsmöglichkeit für Ablehnungen enthalten und den Weg für eine komplette Asylreform ebnen, die für November 2011 angekündigt ist. Derzeit werden 90% aller Asylanträge nicht einmal entgegengenommen, in der Evros-Region scheint es sogar unmöglich zu sein, einen Asylantrag zu stellen. Die Anerkennungsquote der angenommen Fälle liegt weiter knapp über 0%.
Gleichzeitig plant die griechische Regierung eine Ausweitung der Internierungsinfrastruktur im Land, wofür auch Geld von der Europäischen Union bereitgestellt werden wird.
► http://bit.ly/cHGQPN
Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nation zu Folter, Manfred Nowak, hat nach einem 10-tägigen Besuch in Griechenland die Mitgliedsstaaten der EU aufgefordet, alle Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland einzustellen. Er sieht die Gefahr von Kettenabschiebungen.
► http://www.athensnews.gr/portal/9/32274
► http://w2eu.net/2010/09/13/from-lesvos-to-kabul/
Zur Dysfunktionalität des Dublin II-Systems und den Folgen innereuropäischer Flüchtlingsbewegungen auf der Flucht vor Dublin II hat sich auch der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg geäußert. Er beklagt, dass immer mehr Menschen innerhalb Europas herumirren und keine Chance auf Flüchtlingsschutz haben, obwohl ihnen dieser aufgrund ihrer Fluchtgründe zustünde.
► http://commissioner.cws.coe.int/tiki-view_blog_post.php?postId=80
Unter dem Titel „Greece: Asylum Reform Delay Unacceptable“ hat Human Rights Watch am 20. September 2010 eine Stellungnahme veröffentlicht, in der der UNHCR und die europäische Kommission aufgefordert werden, im griechischen Asylsystem zu intervenieren. Die angekündigten Reformen seien nur leere Rhetorik, solange sich nichts an der Situation der Flüchtlinge ändere.
► http://www.hrw.org/en/news/2010/09/20/greece-asylum-reform-delay-unacceptable
Am 21. September hat der UNHCR die Situation in Griechenland als eine „humanitäre Krise“ bezeichnet und Griechenland aufgefordert, die Reform des Asylsystems voranzutreiben.
► http://www.unhcr.org/4c98a0ac9.html
► http://www.unhcr.org/4c98c20b6.html
Wird Ungarn das nächste Griechenland?
Nachdem vermehrt Abschiebungen nach Griechenland unmöglich sind, rückt Ungarn nun in das Zentrum des Dublin II-Systems. Viele Flüchtlinge wählen mittlerweile den Landweg gen Norden und verlassen daher den Dublin-Raum, bevor sie ihn in Ungarn wieder betreten und dort gezwungen sind, einen Asylantrag zu stellen. Auch stellen wir vermehrt Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland fest.
Nach ersten Recherchen sind die Haftbedingungen in Ungarn ähnlich schlimm wie in Griechenland. Uns liegen Berichte über Mängel bei der Ernährung, der Bekleidung und der medizinischen Versorgung vor. Internierten MigrantInnen werden pro Tag €2,50 für Essen zur Verfügung gestellt, es kommt vermehrt zu Hungerstreiks und Revolten.
Gab es bisher drei Haftzentren für MigrantInnen, so wurden nun elf weitere in Betrieb genommen. Derzeit werden alle MigrantInnen allgemein für sechs Monate inhaftiert, wir führen dies auch auf den Druck durch das Dublin II-System zurück. Dies gilt auch für AsylantragstellerInnen, die bis zur Entscheidung ihres Verfahrens inhaftiert bleiben, und Dublin II-RückkehrerInnen.
Ungarn plant, die gesetzliche Grundlage für die Inhaftierung von MigrantInnen zu ändern. So soll die maximale Haftdauer von sechs auf 12 Monate ausgeweitet werden, das neue Gesetz sieht auch eine 30-tägige Internierung von Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen vor.
Das Netzwerk Welcome To Europe hat drei Fälle dokumentiert, in denen Minderjährige schon jetzt in der Haftanstalt Zalaergerszeg inhaftiert werden.
► http://w2eu.net/2010/10/26/hungary-imprisons-minors-after-dublin2-deportation/
Materialmappe für die Beratung von Flüchtlingen im Dublin-Verfahren
Maria Bethke (Asylverfahrensberaterin in Gießen) und Dominik Bender (Rechtsanwalt in Frankfurt) haben eine Materialmappe für die Beratung von Flüchtlingen im Dublin-Verfahren erstellt, welche eine essentielle Hilfe für jede Beratungsstelle darstellt.
► http://dublin2.info/2010/09/materialmappe-fur-die-beratung-von-fluchtlingen-im-dublin-verfahren/