Europa lässt sterben

Wie es dazu kam das ein Boot mit Flüchtlinegn drei Wochen lang im Mittelmeer trieb und was Dublin II damit zu tun hatte

August 2009. 82 Flüchtlinge treiben drei Wochen lang hilflos zwischen Libyen, Malta und Sizilien. Sie haben kein Benzin mehr, die Nahrung ist aufgebraucht. Auch das Satellitentelefon ist inzwischen stumm. Am 10. Tag sterben die Ersten. Insgesamt 77 finden den Tod. Freunde und Verwandte der Überlebenden fordern nun Aufklärung, warum Malta und Italien die Menschen nicht gerettet haben. Auch die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Agrigento prüft derzeit, ob die Fakten zur Eröffnung eines Verfahrens wegen unterlassener Hilfe ausreichen.

Am 28. Juli haben sie die libysche Küste verlassen. Die 82 Flüchtlinge, unter ihnen 25 Frauen, zwei von ihnen schwanger, kommen aus Eritrea, Äthiopien und Nigeria. Sie verfahren sich. Per Satellitentelefon rät der „passeur“ (Schlepper), Kurs auf Malta zu nehmen. Doch dort kommen sie nie an. Verwandte, die auf ein Lebenszeichen warten, beginnen nachzuforschen. Mitte August bittet der Kölner Flüchtlingsrat Maltas Innenministerium, eine Suche nach den Vermissten zu veranlassen. Auch ein eritreischer Flüchtling, der auf Malta lebt, versucht jeden Tag, die Polizei zu einer Suche zu bewegen. Man schickt ihn mit der Drohung, ihn abzuschieben, weg. Nichts geschieht. Das ganze Ausmaß der Katastrophe wird erst am 20. August bekannt, nachdem ein italienisches Schiff fünf Überlebende an Bord nimmt und nach Sizilien bringt.

Humanitäre Tragödie oder unterlassene Hilfeleistung?

Die fünf geretteten Flüchtlinge berichteten davon, dass sie während ihrer drei Leidenswochen jeden Tag Schiffe und Boote gesichtet haben. Auch ein deutscher Hubschrauber im Frontex-Einsatz, der das Mittelmeer kontrolliert, sichtet das Boot – ohne Folgen.

Europa will die Flüchtlinge nicht. Die maltesische Regierung, die schon seit Mitte August wusste, dass das Boot vermisst wird, hat nichts unternommen, um es zu finden. Aufgrund der Dublin II-Verordnung, die besagt, dass das zuerst erreichte europäische Land auch für den Asylantrag zuständig ist, bedeutet das, dass die Flüchtlinge ins Asylverfahren aufgenommen werden müssten. Das genau will Malta verhindern und es kommt zu der wohl unmenschlichsten „Rettungsaktion“: die Überlebenden berichten, dass ein Schiff mit »Männern in weißen Schutzanzügen« zu ihnen gekommen sei. Dabei handelt es sich, wie sich später herausstellte, um die maltesische Marine. Doch die nimmt die Flüchtlinge nicht an Bord, sondern versorgt sie lediglich mit Treibstoff, Brot und Wasser und weist ihnen den Weg nach Italien. Ein Hubschrauber-Foto von den fünf Überlebenden, das auch die Männer in den weißen Anzügen zeigt, gilt zynischerweise als Beweis, dass es den Überlebenden gut geht und wird von den Behörden als solcher veröffentlicht. In den italienischen Gewässern (12-Meilen-Zone) angekommen, werden sie endlich gerettet.

Doch nicht nur die Malteser sind in der Verantwortung für diese barbarische Grausamkeit. Verantwortlich ist der europäische Wille, sich abzuschotten, verantwortlich ist die Dublin II-Verordnung, die die Staaten an der europäischen Außengrenze verpflichtet, die Flüchtlinge aufzunehmen und kaum Möglichkeiten bietet, diese auch auf andere Staaten umzuverteilen. Auch Frontex und Italien sind mitschuldig an dem Tod dieser 77 Menschen. Erstere, da sie sichten und nicht retten. Die italienische Regierung verbietet es den Einheiten der Küstenwache und der Guardia di Finanza (Zoll) inzwischen sogar, über die territorialen Gewässer hinaus zu patrouillieren und ggf. zu retten, wie es noch bis 2009 üblich war. Niemand soll mehr aufgenommen werden, so der eiserne Wille des italienischen Innenministers Maroni. Malta indes versucht, die Flüchtlinge in Richtung der italienischen Gewässer abzudrängen. So schiebt Europa die Flüchtenden auf See hin und her und lässt sie gegebenenfalls auch sterben: Hauptsache, sie landen nicht an.

Die Folgen dieser Abschottungspolitik: mehr als 10 Fischerboote hätten sie gesichtet, berichten die überlebenden Eriträer, aber nur eines habe gehalten und ihnen Wasser und Nahrungsmittel gegeben. Aus Angst vor Repressalien hat kein einziges Boot den Vorfall gemeldet.

Judith Gleitze, borderline-europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V., Außenstelle Sizilien, Februar 2010

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