Am 7. März 2010 erhängte sich David M., ein Flüchtling aus Georgien, in der Abschiebehaft. Einen Monat vorher hatte er in Hamburg einen Asylantrag gestellt. Als die Behörden herausfanden, dass er schon in Polen und in der Schweiz Asyl beantragt hatte, ordnete das Hamburger Amtsgericht Abschiebehaft an, David M. sollte nach Polen abgeschoben werden. Denn nach der Dublin II-Verordnung ist Polen als der erste EU-Mitgliedsstaat, in dem David M. registriert wurde, für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig. David M. hielt es nicht mehr aus, wie eine Figur auf dem Spielbrett Europa herumgeschoben zu werden, immer zwischen Startfeld und Abschiebeknast, ohne Perpektive, jemals ein Ziel zu erreichen.
David M. ist kein Einzelfall. Im Jahr 2009 hat die Bundesrepublik Deutschland 9.129 Mal die Abschiebung eines Flüchtlings nach der Dublin II-Verordnung in einen anderen EU-Staat beantragt und diese in 3.027 Fällen auch durchgeführt. Damit machen Dublin II-Abschiebungen inzwischen rund 40% aller Abschiebungen aus Deutschland aus. Mit anderen Worten: Über 3.000 Personen wurden lediglich zur Durchführung eines Asylverfahrens verhaftet, aus ihrem Lebenszusammenhang gerissen und gewaltsam in ein anderes Land überführt.
Griechenland gerät in die Kritik
Viele Flüchtlinge, etwa aus Afghanistan, Somalia, Irak und Palästina überqueren die Außengrenze der Europäischen Union von der Türkei aus nach Griechenland. Wir hatten 2009 während des Noborder Camps auf der griechischen Insel Lesbos die Möglichkeit, uns vor Ort über die Bedingungen zu informieren, unter denen Flüchtlinge in Griechenland leben müssen. Schon der Grenzübertritt ist gefährlich und endet oftmals mit dem Tod. Danach kommt die oft monatelange Inhaftierung in Gefängnissen, die so menschenunwürdig sind, dass sie niemand in Europa vermuten würde. Ein Asylsystem existiert nur auf dem Papier, ein Asylantrag ist praktisch unmöglich. Um Schutz zu erlangen, versuchen viele Menschen, über die Häfen an der griechischen Westküste nach Italien zu gelangen, um ihren Weg nach Zentraleuropa fortzusetzen. Dabei riskieren sie jedes Mal ihr Leben. Die meisten Flüchtlinge stranden jedoch in Athen, wo sie wie auch jene, die wegen Dublin II nach Griechenland abgeschoben wurden, auf der Strasse leben müssen. Polizeibrutalität, Krankheit und Ausbeutung gehören zum Alltag.
Auch wenn die Kritik an Griechenland in Zeiten der Wirtschaftskrise Konjunktur hat: Die Verantwortlichkeit für die Zustände und das menschliche Leid liegt im europäischen System der Flüchtlings- und Migrationsabwehr. Insbesondere Deutschland, welches im wesentlichen über keine EU-Außengrenze verfügt, hat dieses System der Verantwortungslosigkeit vorangetrieben und zählt zu den Hauptprofiteuren. Doch auch in Deutschland ist Dublin II nicht mehr unumstritten. Seit mehreren Jahren dokumentieren Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder Human Rights Watch die Verletzung elementarer Flüchtlings- und Menschenrechte in Griechenland. Im Sommer 2009 gelang es während des Nobordercamps auf Lesbos, Bilder des Flüchtlingsgefängnisses Pagani einer breiten Öffentlichkeit, auch in Deutschland, zugänglich zu machen.
Diese Aufklärungsarbeit hat nun auch ihren juristischen Niederschlag gefunden. In einer spektakulären Eilentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht am 8. September 2009 eine erste Dublin II-Abschiebung nach Griechenland ausgesetzt, und diese Rechtssprechung seitdem auch fortgesetzt. Neben prozessualen Erwägungen steht für das Bundesverfassungsgericht vor allem die Frage zur Klärung an, ob die Dublin II-Verordnung einen Verstoß gegen den europarechtlichen Grundsatz der Solidarität darstellt. Damit ist der zentrale Mechanismus der Ungleichverteilung in Frage gestellt, Dublin II steht auf der Kippe.
Bundesregierung will Dublin II nicht aufgeben
Dem Urteil folgend haben Bayern und Baden-Württemberg die Dublin II-Abschiebungen nach Griechenland ausgesetzt und viele Verwaltungsgerichte haben Eilanträgen gegen drohende Überstellungen stattgegeben. Das Bundesinnenministerium hält dagegen und übt massiven Druck auf die Länderinnenministerien aus, auf gar keinen Fall Abschiebungen nach Griechenland generell zu stoppen. Auch die dem Bundesinnenministerium unterstellte Bundespolizei führt in ihrem Zuständigkeitsbereich weiter Abschiebungen nach Griechenland durch. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bemüht sich nun, nach langem Leugnen der Zustände in Griechenland, einen Dublin II-konformen Ausweg aus der Misere zu finden. Die Bundesregierung will also mit aller Macht an Dublin II festhalten.
Für uns ist jedoch klar: Dublin II ist ein bürokratisches Monster, bei dem es nicht darum geht, Flüchtlingen Schutz vor Verfolgung zu gewähren, vielmehr wird Verantwortungslosigkeit der zentraleuropäischen Staaten auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen. Wir dokumentieren in dieser Zeitung daher die bittere Realität des europäische System der Flüchtlingsabwehr und der Dublin II-Regelung. Sie ist ein Appell zum Handeln gegen dieses zutiefst ungerechte und unmenschliche System und ein Aufruf zur Solidarität mit den betroffenen Flüchtlingen, an der Außengrenze, im Transit und auch in Deutschland.
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