Bundesverfassungsgericht verzichtet auf Grundsatzurteil

Als wir die Dublin II-Kampagne im Winter 2009/2010 gestartet haben, hatten wir mit Spannung auf die Entscheidung des Bundsverfassungsgerichts geschaut. Nachdem im September 2009 ein erster Eilerlass gegen eine Dublin II-Abschiebung gesprochen wurde, der auch danach immer wieder verlänger worden ist, bestand bei uns die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht einen wesentlich Konstruktionsfehler des deutschen Asylrechts, der sich auch in der Dublin II-Verordnung niedergeschlagen hatte, korrigieren würde. Am 28. Oktober 2010 wurde in Karlsruhe verhandelt, und es zeichnete sich ab, dass es zu einer entsprechenden Korrektur kommen würde.

Mittlerweile ist klar, dass das Bundesverfassungsgericht diese Chance ohne Not hat verstreichen lassen.

Letzte Woche wurde bekannt, dass das Bundesinnenministerium für ein Jahr alle Dublin II-Abschiebungen ausgesetzt hat und zudem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angewiesen hat, in allen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Hier die dementsprechende Weisung des BAMF vom 18. Januar 2011: AL 4 – 2011/1.

[I]n allen Fällen, in denen die Anwendung der [Dublin II-Verordnung] eine Überstellung von Drittstaatsangehörigen nach Griechenland bereits beabsichtigt ist bzw. künftig in Betracht kommt, gilt ab sofort:

  1. Das Bundesamt macht vom Selbsteintrittsrecht gemäß Artikel 3 der Dublin-VO Gebrauch.
  2. Die betroffenen Drittstaatsangehörigen werden nicht nach Griechenland übersetellt.
  3. Das Bundesamt führt die Asylverfahren der Betroffenen durch

Dies gilt auch für alle anhängigen Fälle, in denen eine Überstellung nach Griechenland aufgrund von Gerichtsentscheidungen oder wegen Petitionsverfahren derzeit nicht durchgeführt werden.

Diese Maßnahmen sind bis zum 12. Januar 2012 befristet.

Der Kläger hatte schon letzte Woche erklärt, das Verfahren nicht weiter betreiben zu wollen. Am gestrigen 25. Januar hat nun auch das Bundesverfassungsgericht das Verfahren eingestellt. In einer Pressemitteilung vom 26. Januar 2011 schreibt es (unsere Hervorhebung):

Der Beschwerdeführer hat das Verfahren für erledigt erklärt. Mit Beschluss vom gestrigen Tage ist das Verfahren eingestellt worden. Der Zweite Senat hat keinen Anlass gesehen, das Verfahren zur Klärung lediglich abstrakter, gegenwärtig nicht aktueller Fragen des nationalen Verfassungsrechts fortzuführen.

Das ist natürlich ein starkes Stück, denn erstens bezieht sich der Erlaß des BMI lediglich auf Griechenland, und zweitens ist er auf ein Jahr befristet. Wie wir auf eigenen Recherchereisen feststellen konnten, ist die Lage Asylsuchender und Flüchtlinge auch in anderen EU-Staaten ähnlich prekär. Weiter ist es nicht zu erwarten, dass Griechenland binnen einen Jahres eine grundlegende Veränderung der Situation Asylsuchender wird bewirken können. Die Frage eines Rechtsschutzes gegen Dublin II-Abschiebungen ist also sehr wohl eine aktuelle Frage des nationalen Verfassungsrechts.

Karlsruhe hat also eine Hintertür gewählt. Schlimmer wiegt jedoch, dass es sich selbst diese Hintertür geschaffen und geöffnet hat. Aus der Pressemitteilung:

Bereits unmittelbar nach der mündlichen Verhandlung hatte der Senat beim Bundesministerium des Innern angeregt zu prüfen, ob von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht und damit das Verfahren erledigt werden könnte. Da die mit der Überforderung des Asylsystems eines Mitgliedstaats der Europäischen Union verbundenen transnationalen Probleme vornehmlich auf der Ebene der Europäischen Union zu bewältigen sind, und in Anbetracht der vom Bundesminister des Innern in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargestellten Anstrengungen, Defizite des griechischen Asylsystems in naher Zukunft zu beheben, erschien dem Senat eine Erledigung des Verfahrens ohne Urteil sachangemessen.

Dementsprechend bissig schreibt Heribert Prantl in der Süddeutschen in einem Kommentar:

Sie [die Richter] hätten bekennen können, dass sie damals [1996: Urteil zum sog. Asylkompromiss] falsch geurteilt haben, weil sich das höchste Gericht damals hatte anstecken lassen von öffentlicher Hysterie. Die höchsten Richter hätten den Versuch machen können, den am Boden liegenden Grundrechtsschutz für Flüchtlinge wieder aufzurichten. Sie haben den Mut nicht gehabt. Sie haben die Chance vertan.

Weiter geht Heribert Prantl auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ein, der in seinem Urteil vom Freitag, den 21. Januar 2011, durchaus den Anspruch auf einen Rechtsschutz gegen Dublin II-Abschiebungen bejaht hat.

Aus der Pressemitteilung des EGMR:

A violation of Article 13 taken together with Article 3 by Belgium because of the lack of an effective remedy against the applicant’s expulsion order.

Vielleicht ist das der Grund, warum der EGMR auf der englischen Version der Website lediglich eine weitere Übersetzung bereitstellt: Ins Deutsche. Die Nachricht ist klar: Was sich das Karlsruhe nicht traut, mit dem
hat Straßburg kein Problem.

Heribert Prantl:

Die Richter hätten gleichwohl feststellen können und müssen, dass das ganze System, auf dem auch der ministerielle Erlass beruht, mit einem effektiven Schutz der Grund- und Menschenrechte nicht in Einklang zu bringen ist. Aber exakt das wollten sie ja partourt vemeiden. Sie wollten sich den Mund nicht verbrennen. Das Bundesverfassungsgericht überlässt das dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Wenn die Karlsruher Richter einmal die Chance hätten, zusammen mit den Kollegen in Straßburg die Menschenrechte zu stärken, dann tun sie es nicht. Es ist bitter: Die Karlsruher sind vor allem dann rührig, wenn sie gegen die Kollegen in Straßburg agieren können; wenn sie aber mit ihnen agieren könnten, dann tun sie es nicht. Karlsruhe degradiert sich selbst. Richterlicher Mut wandert ab nach Straßburg.

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