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Time to Act. Dublin muss weg!

dublin-call-2014

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Noch nie war der Widerstand gegen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant*innen und insbesondere gegen innereuropäische Abschiebungen so lautstark: Deutschland- und europaweit formieren sich Initiativen wie die selbstorganisierten Kämpfe der „Lampedusa-Gruppen“. Auch die Außengrenzen sind so umkämpft wie noch nie. Fast wöchentlich überwinden Migrant*innen kollektiv die Grenzzaunanlagen in Ceuta und Melilla, tausende sind in den letzten Monaten in Sizilien gelandet, auf Lampedusa verweigerten öffentlich Hunderte erfolgreich die Registrierung ihrer Fingerabdrücke und auch in der Ägäis kommen täglich mehr Boote auf den griechischen Inseln an.

Das Dublin-System nimmt Geflüchteten das Recht, zu entscheiden, wo sie Asyl suchen. Automatisch für das Asylverfahren zuständig ist immer das Land der Einreise. Um die Dublin Verordnung durchzusetzen, wurde und wird eine gigantische Menge biometrischer Daten (EuroDac) erfasst.

Die Hauptverantwortung wird damit an die europäischen Außen-
grenzen verlagert. Deutschland gehört zu den Hauptprofiteuren dieses Systems. Seit der Reformierung der Dublin-Verordnung Ende 2013 hat eine regelrechte Welle von Abschiebungen an die Ränder Europas begonnen – dabei machten schon 2013 Dublin-Abschiebungen etwa ein Drittel aller Ab- und Zurückschiebungen aus Deutschland aus.

Der Widerstand gegen die Dublin-Verordnung ist vielfältig. In jahrelangen Auseinandersetzungen haben antirassistische Initiativen Anwälte und Anwältinnen, NGOs, und die Betroffenen vor europäischen Gerichten einen Abschiebestopp nach Griechenland erstritten. In andere europäische Länder mit ähnlich desaströsen Bedingungen wird dennoch weiterhin abgeschoben. Die Reformierung der Dublin-Verordnung hat nicht mehr als kosmetische Veränderungen gebracht. Die katastrophalen Zustände in anderen EU-Ländern führen dazu, dass sich viele Asylsuchende seit Jahren in der Schleife von Weiterflucht und Abschiebung befinden. Eine der Grundideen von Dublin „No refugees in orbit“, die schnelle Klärung der Zuständigkeit, wird durch die langjährigen Odysseen und Abschiebeerfahrungen der Flüchtlinge ad absurdum geführt.

Das Dublin System ist Teil eines menschenverachtenden europäischen Grenzregimes. Dublin muss weg!

Kontakt und konkrete Unterstützung sind für jede und jeden einzelnen enorm wichtig und steigern die Chancen, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden – das Gefühl nicht allein zu kämpfen hilft, nicht aufzugeben. Es braucht viele Menschen, die Kontakt aufnehmen und Freundschaften knüpfen.

Viele der Betroffen haben traumatische Erfahrungen gemacht. Um ihnen zu helfen und Dublin-Abschiebungen zu verhindern, werden Behandlungen und Atteste über physische und psychische Erkrankungen nötig. Oft sind diese die einzige Möglichkeit, auf juristischem Weg Abschiebungen zu stoppen. Deshalb sind Kontakte zu Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychiatern unerlässlich, die entsprechende Diagnostiken und Gutachten erstellen.

Wir brauchen Schutzräume für die von Abschiebungen bedrohten Menschen. Viele von ihnen müssen nur wenige Monate überbrücken, um eine Abschiebung zu stoppen. Das Kirchenasyl erscheint als effektives Mittel, indem es einen konkreten Schutzraum schafft und – sofern mit öffentlichen Initiativen verbunden – gleichzeitig den politischen Druck aufbaut. Wir müssen Kontakte zu solidarischen Gemeinden und Unterstützer*innen auf- und ausbauen!

Es gilt, die politischen Akteure vor Ort in die Verantwortung zu nehmen. Die Forderungen der Lampedusa-Gruppen nach einem Bleiberecht richten sich nicht zuletzt an die Städte und Gemeinden, in denen die Flüchtlinge angekommen sind und bleiben wollen. Einen gleichgültigen Verweis durch Politiker*innen auf europäische Vorgaben nehmen wir nicht hin! Es gibt viele Handlungsmöglichkeiten: Fordert Kommunalpolitiker*innen auf, ihren Spielraum zu nutzen, schreibt offene Briefe, stürmt Bürgersprechstunden!

Vor allem gegen Abschiebungen nach Italien, aber auch nach Malta und Ungarn, wehren sich viele Flüchtlinge noch in letzter Minute. Bei Abschiebeversuchen per Flugzeug stehen sie auf oder weigern sich, sich anzuschnallen. Scheitert die erste Abschiebung, werden die Betroffenen vielfach in Abschiebehaft genommen. Beim zweiten oder dritten Abschiebeversuch sind sie dem Druck durch die begleitenden Polizeibeamten ausgesetzt. Geflüchtete brauchen solidarische Mitreisende und Unterstützung am Flughafen, denn sie fliegen nicht freiwillig!

Die Betroffenen werden sich zweifellos weiterhin Abschiebungen widersetzen, leider werden nicht alle erfolgreich sein. Nach der Abschiebung ist es wichtig, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, uns mit ihrer Forderung nach Bewegungsfreiheit zu solidarisieren und sie praktisch zu unterstützen. Wir müssen dokumentieren, was die Betroffenen nach ihrer Abschiebung erleben. Außerdem geht es um die praktische Unterstützung bei der Rückkehr. Wir benötigen ein transeuropäisches Netzwerk, das in der Lage ist, Asylsuchende dabei zu unterstützen, was sie schon alltäglich machen: das Dublin System zu unterlaufen.

Lampedusa ist überall!
Täglich entziehen sich Geflüchtete massenhaft den angeordneten Abschiebungen, indem sie untertauchen, sich widersetzen oder weiterziehen. Solange die Lebensbedingungen in Italien, Ungarn, Polen oder anderswo menschenunwürdig sind, werden sich Asylsuchende nicht von einer europäischen Verordnung von der Weiterflucht abhalten lassen – vielmehr findet mit den Füßen eine stille Abstimmung gegen das Dublin-System statt.

In Hamburg kämpft die Gruppe “Lampedusa in Hamburg” seit fast einem Jahr für ein Bleiberecht und das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. In Osnabrück haben Betroffene und Unterstützer*innen sich mit einer Blockade erfolgreich den Dublin-Abschiebungen widersetzt. In Frankfurt demonstrieren Hunderte gegen Abschiebungen nach Italien. In Hanau gründete sich eine weitere Lampedusa-Initiative. In Göttingen konnte die Abschiebung eines Somaliers nach Italien trotz massiver Polizeigewalt durch eine Blockade verhindert werden…

Protestmarsch nach Brüssel
…All diese Aktivitäten fallen in eine Phase verstärkter Selbstorganisation, die mit dem Protestmarsch nach Berlin 2012 eine neue Dynamik gewonnen und sich seitdem weiter verdichtet hat. Aktueller Ausdruck/Höhepunkt ist die Vorbereitung eines neuen transnationalen Marsches von Straßburg nach Brüssel, der von Refugees, Sans Papieres und MigrantInnen aus mehreren europäischen Ländern gemeinsam initiiert wurde.

Er beginnt am 18. Mai und mündet am 20. Juni in einer Aktionswoche in der Hauptstadt der EU, um gegen das dortige Gipfeltreffen der Innenminister zu protestieren. Ein inhaltlicher Schwerpunkt dieses Marsches ist der Kampf gegen die inneren Grenzen der EU und damit insbesondere gegen die Dublin-Verordnung und das EuroDac-System. Wir rufen dazu auf, an dem Marsch und den Aktionstagen in Brüssel teilzunehmen und unsere Kämpfe damit verstärkt auf die europäische Ebene zu tragen.

Lage der Flüchtlinge auf Malta

Dublin II-Rückschiebungen sofort stoppen! Sommeruniversität dokumentiert Lage der Flüchtlinge auf Malta

Presseerklärung, 26. September 2011. Ökumenische BAG Asyl in der Kirche

Die Internationale Sommeruniversität “Flüchtlingsschutz an den EU-Außengrenzen: Dialog zwischen Menschenrechten und Bibel” auf Malta von 14. – 25. September zieht Bilanz:

Ziel des Projekts war es, junge Erwachsene aus der Bundesrepublik Deutschland mit der besonderen Situation der Republik Malta als EU-Grenzstaat vertraut zu machen und Handlungsoptionen für die Arbeit mit Flüchtlingen auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes zu entwickeln. 14 junge Mitglieder von deutschen NGOs arbeiteten mit Flüchtlingen aus Äthiopien, Eritrea, Somalia, Togo, Mali, Sudan etc. sowie mit maltesischen StudentInnen in den “Open Centres” auf Malta an ausgewählten Themen: Dublin II-Regelung, Frauen und Kinder in Lagern, Sprachunterricht für Multiplikatoren, Situation von unbegleiteten Minderjährigen, Menschenrechtsberatung etc.

Unterstützt wurde die Sommer Universität von der EU (“youth in action”), der römisch-katholischen Kirche, der EKD und verschiedenen Evangelischen Landeskirchen.

Auffällig zahlreich waren die Begegnungen mit Flüchtlingen, die gemäß dem Dublin II-Verfahren zurück nach Malta abgeschoben worden waren. Statt EU-intern den kleinen Inselstaat zu entlasten, führt diese Regelung zu einer unhaltbaren Situation. Auch die freiwillige Aufnahme von 150 ausgewählten Flüchtlingen durch die Bundesrepublik Deutschland in 2011 führt zu keiner Enlastung, denn ihr stehen zahlreichen Rückschiebungen aus den nördlichen EU-Ländern gegenüber (Zahlen für 2010: 300 Aufnahmen gegenüber 566 Rückschiebungen).

In Treffen mit dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS Malta), dem Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), der Agency for the Welfare of Asylum Seekers (AWAS), dem Marsa Open Centre, sowie weiteren NGOs konnten wichtige Kontakte geknüpft und Fragen gemeinsam erörtert werden.

“Wir haben nicht von Malta geträumt, sondern von einem sicheren Leben in Frieden in Europa”

Viele junge Flüchtlinge wiederholten diese Worte in den zahlreichen Gesprächen. Doch diese Träume zerschellen angesichts ihrer ausweglosen Lage auf Malta.

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Frankreich setzt Griechenland-Abschiebungen aus

Wie heute bekannt wurde, hat der französische Innenminister alle Präfekten angewiesen, bis auf weiteres alle Abschiebungen nach Griechenland auszusetzen und vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

Niederlande setzen eine Abschiebungen nach Italien aus

Einstweilige Anordnung der Verwaltungsabteilung des Staatsrats (Höchstes Gericht der Niederland) in Erwartung eines Urteils. Der Grund für diese Anordnung ist, dass es schon Eilanordnungen des EGMR gegen Abschiebungen nach Italien gab und der EGMR die Qualität des italienischen Asylsystems in Zweifel zieht.

Maschinenübersetzung mit Korrekturen:

Pending the appeal of December 3, 2010 (10/25730) on the application for an asylum permit, the [foreigner] asked to take a [temporary decision]. The stranger says that in Italy the processing of asylum claims [is] in breach of EU law and that the Minister in this respect should have used its authority to the application to voluntarily withdraw themselves in light of art. 3 paragraph 2 DV. He also maintained that a number of the ECHR decisions based on Rule 39 in relation to Italy’s interim measures suggest that the ECHR doubts the quality of asylum in Italy. He also stated that Italy has ignored interim measures in some cases. The [foreigner] was announced on January 28, 2011 to be [deported]. In light of the ruling of the ECHR (MSS against Belgium and Greece) of 21 January 2011 (30696/09), the president sees reason now to determine that the [foreigner] will not be released until the parties at the hearing on the request cite elated and then the President has ruled. The treatment will in the short term, but not before the proposed transfer date. Temporary Decision given.

VG Frankfurt stoppt Italien-Abschiebung

Beschluß vom 17. Januar 2011 (unsere Hervorhebungen)

Vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Dublin-Überstellung nach Italien.
1. Die Situation in Italien ist derjenigen in Griechenland vergleichbar, jedenfalls was den hier relevanten Zugang zu ärztlicher Versorgung und die für die Ausheilung von Verletzungen notwendigen Begleitumstände angeht.
2. Die Übersendung der Akte des BAMF, welche einen Entwurf des noch nicht zugestellten Dublin-Bescheids enthält, an den Bevollmächtigten zur Akteneinsicht, kann wie hier zur Bekanntgabe, d. h. wirksamen Zustellung, führen. Dem steht nicht entgegen, dass eine Bekanntgabe grundsätzlich den entsprechenden Bekanntgabewillen der Behörde voraussetzt. Darauf kann es in dieser besonderen Lage nicht ankommen, da ansonsten mit Blick auf die Zustellungspraxis des BAMF in Dublin-Verfahren das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG verletzt würde.

Lediglich abstrakte, gegenwärtig nicht aktuelle Fragen des nationalen Verfassungsrechts? So kann sich Karlsruhe irren (intentional).

Bundesverfassungsgericht verzichtet auf Grundsatzurteil

Als wir die Dublin II-Kampagne im Winter 2009/2010 gestartet haben, hatten wir mit Spannung auf die Entscheidung des Bundsverfassungsgerichts geschaut. Nachdem im September 2009 ein erster Eilerlass gegen eine Dublin II-Abschiebung gesprochen wurde, der auch danach immer wieder verlänger worden ist, bestand bei uns die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht einen wesentlich Konstruktionsfehler des deutschen Asylrechts, der sich auch in der Dublin II-Verordnung niedergeschlagen hatte, korrigieren würde. Am 28. Oktober 2010 wurde in Karlsruhe verhandelt, und es zeichnete sich ab, dass es zu einer entsprechenden Korrektur kommen würde.

Mittlerweile ist klar, dass das Bundesverfassungsgericht diese Chance ohne Not hat verstreichen lassen.

Letzte Woche wurde bekannt, dass das Bundesinnenministerium für ein Jahr alle Dublin II-Abschiebungen ausgesetzt hat und zudem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge angewiesen hat, in allen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Hier die dementsprechende Weisung des BAMF vom 18. Januar 2011: AL 4 – 2011/1.

[I]n allen Fällen, in denen die Anwendung der [Dublin II-Verordnung] eine Überstellung von Drittstaatsangehörigen nach Griechenland bereits beabsichtigt ist bzw. künftig in Betracht kommt, gilt ab sofort:

  1. Das Bundesamt macht vom Selbsteintrittsrecht gemäß Artikel 3 der Dublin-VO Gebrauch.
  2. Die betroffenen Drittstaatsangehörigen werden nicht nach Griechenland übersetellt.
  3. Das Bundesamt führt die Asylverfahren der Betroffenen durch

Dies gilt auch für alle anhängigen Fälle, in denen eine Überstellung nach Griechenland aufgrund von Gerichtsentscheidungen oder wegen Petitionsverfahren derzeit nicht durchgeführt werden.

Diese Maßnahmen sind bis zum 12. Januar 2012 befristet.

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Nach der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Hier eine kleine Presseschau der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht.

Die Süddeutsche Zeitung hat sich der Thematik ausführlich gewidmet und zwei Artikel sowie einen Kommentar von Heribert Prantl gebracht.

Der Artikel vom 29.10.2010 (Karlsruhe stellt Abschiebepraxis in Frage) fängt gleich mit einer Prognose an:

Das Bundesverfassungsgericht wird voraussichtlich den Rechtsschutz für Asylbewerber in Deutschland verbessern. Die Richter des Zweiten Senats tendieren in ihrer Mehrheit offenbar dazu, im Fall von Griechenland den rigiden Abschiebe-Automatismus aus dem Asylkompromiss der 90er Jahre auszusetzen

Weiter schreibt die SZ:

Der Zweite Senat wird in seinem für kommendes Frühjahr erwarteten Urteil jedoch nicht selbst darüber befinden, ob die Asylpraxis in Griechenland rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht oder nicht […]. Es geht einzig um den einstweiligen Rechtsschutz, der entweder direkt aus den europäischen Zuständigkeitsregeln oder direkt aus dem Grundgesetz abgeleitet wird.

Die Bundesregierung, vertreten durch Innenminister de Maizière, vertrat die unhaltbare These, dass das Asylsystem in Griechenland NICHT zusammengebrochen sei und zudem im laufenden Jahr nur 43 Griechenland-Abschiebungen stattgefunden hätten. Es sei zudem höchst problematisch, wenn das BVerfG die Lage in anderen Ländern prüfe.

Heribert Prantl hat in seinem Kommentar (Das Grundrecht dritter Klasse) die ganz optimistische Variante formuliert:

Seit 17 Jahren, seit 1993, lügt sich das neue deutsche Asylrecht die Welt zurecht. Das große Lügen geht jetzt zu Ende: Das Bundesverfassungsgericht macht die Heuchelei nicht mehr mit.

Diese Klausel [Drittstaatenklausel; w2eu] war das von der deutschen Politik erfolgreich propagierte Vorbild für das Asylrecht der EU. Aber die Schärfe der deutschen Klausel ist nach wie vor ohne Vorbild in Europa. Deutschland verhält sich wie Pontius Pilatus: Man wäscht die Hände in Unschuld und schiebt Flüchtlinge so rigoros ab wie Sarkozy die Roma. Zum Beispiel von Deutschland nach Griechenland – obwohl es dort keinen Schutz für Flüchtlinge gibt. Das Asylverfahren in Griechenland ist kein Schutz-, sondern ein Jagdrecht. Aber das deutsche Asylrecht nimmt das nicht zur Kenntnis. Was realiter in Griechenland (oder anderswo) passiert, interessiert nicht: Man schaut in die Listen, da steht “sicher” – und man schiebt ab. Man nennt das “normative Vergewisserung”; die Realität ist egal, der Buchstabe des Gesetzes alles.

Der Artikel von AFP (De Maizière warnt vor weiteren Rechten für Asylbewerber) geht noch etwas näher auf die Argumente der Bundesregierung ein:

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hat vor zusätzlichem Rechtsschutz für Asylbewerber gewarnt, die über den EU-Grenzstaat Griechenland nach Deutschland einreisen. Defizite beim Vollzug des Asylrechts in Griechenland müssten “politisch gelöst” werden und nicht verfassungsrechtlich, sagte de Maizière vor dem Bundesverfassungsgericht. […]

De Maizière betonte, dass Griechenland als EU-Mitglied ein “Rechtsstaat” sei. Es stehe zwar “politisch außer Frage”, dass es dort “Defizite beim Vollzug des Asylrechts gibt”. Doch diese Mängel würden eine Abschiebung von Betroffenen nach Griechenland rechtlich nicht ausschließen. Griechenland habe für die Lösung des Flüchtlingsproblems Hilfe erbeten, es brauche Hilfe und es bekomme sie auch.

Zum Rahmen der kommenden Entscheidung schreibt die AFP:

Dem Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle zufolge müssen die Verfassungshüter nun entscheiden, “ob und unter welchen Voraussetzungen” ein Asylsuchender Eilrechtsschutz vor Abschiebung in einen sogenannten sicheren Drittstaat einfordern kann. Zu diesen Staaten zählen laut Verfassung automatisch alle EU-Mitgliedsstaaten. Artikel 16 des Grundgesetzes erlaubt den Schutz vor Abschiebung in sichere Drittstaaten nur in strengen Ausnahmefällen, etwa wenn solch ein Staat selbst keinen Schutz mehr vor politischer Verfolgung gewährt.

Auch der Focus hat einen Artikel gebracht (Verfassungsgericht für mehr Schutz).

Zur Einschätzung des BVerfG:

Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle nannte die Lage der Ausländer in Griechenland „prekär“. Die Karlsruher Verfassungsrichter erwägen deshalb, dass Betroffene vor ihrer Abschiebung nach Griechenland im Eilverfahren ein deutsches Gericht anrufen können. […]

Das Bundesverfassungsgericht sieht dagegen Anhaltspunkte für eine „massive Überforderung der griechischen Behörden“ in den Asylverfahren, wie Bundesverfassungsrichter Michael Gerhardt sagte. Die Karlsruher Richter verwiesen auf zahlreiche europäische Staaten, die die automatische Überstellung von Asylbewerbern nach Griechenland gestoppt hätten. Auch vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) liegt eine Vorlage, ob vor einer Abschiebung nach Griechenland einstweiliger Rechtsschutz gewährt werden müsse.

Es wird auch relativ klar dokumentiert, dass es der Bundesregierung keineswegs um ein faires Asylsystem geht, sondern dass das Ziel Migrationsverhinderung ist:

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) trat in Karlsruhe einer Rechtsänderung entgegen und warnte eindringlich vor den Folgen. Ein Transfer der Flüchtlinge von Griechenland in die EU-Staaten wäre die Folge. De Maizière bestätigte zwar Schwierigkeiten Griechenlands bei der Bewältigung der Asylverfahren und Mängel bei der Flüchtlingsunterbringung. Maßnahmen zur Abhilfe seien aber bereits auf dem Weg. „Griechenland braucht Hilfe und Griechenland bekommt Hilfe“, sagte de Maizière. Dies seien aber politische Fragen, keine verfassungsrechtlichen.

Die FAZ hat auch einen Artikel, der vor allem in Hinsicht auf die Verquickung mit der europäischen Ebene interessant ist (Der Geist der Menschenwürde):

Der Zweite Senat ließ andererseits anfangs kein gutes Haar an dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des irakischen Asylbewerbers: „Es ist nicht klar, wo Sie damit hin wollen“, stellte Voßkuhle fest, so dass sich mancher fragte, wozu diese mündliche Verhandlung überhaupt anberaumt wurde. Der Anwalt hatte den Eindruck erweckt, als verdränge das europäische Asylrecht die deutschen Verfassungsbestimmungen, und er regte eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg an. Der ist tatsächlich schon mit dieser Frage befasst […]

Doch die Karlsruher Richter lassen sich, aller immer wieder betonten guten europäischen Zusammenarbeit zum Trotz, ungern sagen, dass sie eigentlich nicht zuständig sind. Schließlich hatte auch das Bundesverfassungsgericht, als es vor bald 15 Jahren den Asylkompromiss billigte, enge Ausnahmen zugelassen, in denen doch Rechtsschutz gewährt werden müsse. Doch für die Bundesregierung ist eine solche Ausnahme erst dann gegeben, wenn ein EU-Staat gleichsam selbst zu einem Verfolgerstaat wird, oder wenn, wie ihr Prozessbevollmächtigter Kay Hailbronner darlegte, das Asylsystem eines Landes völlig zusammengebrochen sei.

Am Schluß ist dann noch der gröbste Fehlgriff des Bundesinnenministers dokumentiert:

Es sei Ausdruck der „inneren Würde der Staaten“, sich nicht gegenseitig „Schulnoten“ zu erteilen [sagte der Bundesinnenminister; w2eu]. Das war eine Vorlage für Richter Udo Di Fabio: „Wir gehen ja von der Würde des Menschen aus.“ Und der Berichterstatter in diesem Verfahren, Michael Gerhardt, ergänzte: „Was ist mit den Individuen?“ In der Tat kann man es sich nur schwer vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht den individuellen Rechtsschutz aufgibt. Denn dass man sich grundsätzlich gegen hoheitliche Eingriffe wehren kann – unabhängig von europäischer Verflechtung – ist auch Ausfluss der Menschenwürde. Di Fabio sagte, diese sei wie ein „Geist“, der in den übrigen Grundrechten enthalten sei.

Newsletter #4 veröffentlicht

Heute, ein Tag vor der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts, ist der vierte Newsletter der Dublin II-Kampagne erschienen. Er enthält folgende Themen:

  • Verfahren vor dem Europäischem Gerichtshof und dem Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte
  • Aussetzung von Abschiebungen nach Griechenland
  • Situation in Griechenland
  • Wird Ungarn das nächste Griechenland?
  • Materialmappe für die Beratung von Flüchtlingen im Dublin-Verfahren

Österreichischer Verfassungsgerichtshof setzt erstmalig eine Griechenlandabschiebung aus

Nach zwei Meldungen von ORF.at (eins, zwei) hat der Verfassungsgerichtshof Österreichs eine Dublin II-Abschiebung nach Griechenland untersagt.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat die Überstellung schutzbedürftiger Flüchtlinge nach Griechenland zwar nicht generell untersagt, allerdings mit einer neuen Auflage verbunden. Künftig müssen die Behörden eine „fallbezogene individuelle Zusicherung“ der griechischen Kollegen einholen, dass die Asylwerber auch tatsächlich betreut werden.
[…]
Der VfGH erklärte die Abschiebung nun […] für verfassungswidrig. Grund: Der Asylgerichtshof hatte in dem Verfahren zwar selbst die Frage aufgeworfen, ob die Familie – immerhin war die Frau mit einem sechs- und einem dreijährigen Kind sowie einem Neugeborenen unterwegs – in Griechenland überhaupt versorgt würde, hatte diese Frage aber nicht verlässlich beantwortet.

Stattdessen gab sich der Asylgerichtshof mit einem allgemeinen Hinweis des Bundesasylamts zufrieden, wonach bei besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen zumindest die vorläufige Unterbringung in Griechenland gewährleistet sei, wenn die Abschiebung rechtzeitig angekündigt wird. Aus Sicht der Verfassungsrichter wäre jedoch eine individuelle Zusicherung der Versorgung durch Griechenland nötig gewesen. Die Überstellung wurde daher mit Verweis auf das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung (Artikel 3 Menschenrechtskonvention) aufgehoben.

UNHCR: Übersicht über Handhabung des Selbsteintrittsrechts in den Dublin-Staaten

Der UNHCR hat am 16. Juni 2010 eine Übersicht über die nationale Handhabung des Selbsteintrittsrechts in den Dublin-Staaten veröffentlicht:

UN High Commissioner for Refugees, UNHCR Information Note on National Practice in the Application of Article 3(2) of the Dublin II Regulation in particular in the context of intended transfers to Greece, 16 June 2010

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